Samstag, 19. Oktober 2019

Schmidt
(Manuskript in 20 Teilen)


1

Ihr kleiner Mund hatte sich seit Jahrzehnten nicht mehr zu einem Lächeln verzogen. Sie trug eine rote Funktionsjacke mit vielen Klett- und Reißverschlüssen und großen Taschen und sie sagte, sie sehe nicht ein, diese Gebühr zu zahlen, da in ihrem besonderen Fall diese „keinerlei Relevanz besitze“. Keinesfalls werde sie die Gebühr bezahlen.
Schmidt griff sich einen Kugelschreiber mit dem neuen Unternehmenslogo, um sich Notizen zu machen. Das neue Unternehmenslogo war nur eine leichte Variation des vorherigen Logos. Die Grafikdesignerin hatte lediglich die Schrifttype etwas schlanker gemacht. Dennoch wurde alles, auf dem das vorherige Logo zu sehen war, mit dem Tag der Einführung des neuen Logos konsequent und gewissenhaft entsorgt. Schmidt war diese Verschwendung zuwider gewesen und so hatte er noch einige Kugelschreiber und Notizblöcke für den privaten Gebrauch nach Hause gerettet, obwohl die Geschäftsleitung dies ausdrücklich untersagt hatte. Das neue Logo sollte sich schnellstmöglich etablieren und das alte verschwinden. Das war von enormer Wichtigkeit.
Die Notizen machte Schmidt, um der Kundin zu signalisieren, dass er sie und ihr Anliegen ernst nahm. Dies war eine der Taktiken, die er bei einer Fortbildung zum Thema „Umgang mit schwierigen Kunden“ gelernt hatte. Die Bezeichnung „schwieriger Kunde“ empfand er übrigens als unangebracht. Mit „schwierig“ assoziierte er Tiefe und Komplexität. Schwierige Kunden sind aber seiner Erfahrung nach in der Regel einfach nur egozentrisch.
Er schrieb auf den eben noch jungfräulichen, mit dem neuen Logo bedruckten  Notizblock: „Vorsatz: Ich werde ab sofort jeden Gedanken an meine Arbeit, der mir in meiner Freizeit kommt, mit einem Klospülgeräusch quittieren und beenden.“
Schmidt übte sich täglich darin, seine Arbeit als lachhafte Absurdität zu betrachten, die ihm lediglich sein Leben finanziert.
Er erklärte der Kundin, dass die Gebühr pauschal erhoben wird. Eine Einzelfallprüfung wäre mit einem hohen Arbeitsaufwand verbunden, der dazu führen würde, dass die dabei entstehenden Kosten letztendlich den Kunden angelastet werden würde. Somit stiege die Gebühr insgesamt. Im Übrigen sei die Gebühr in den Geschäftsbedingungen, die sie mit ihrer Unterschrift bei Vertragsabschluss akzeptiert habe, eindeutig und klar ersichtlich aufgeführt.
Sie ging auf seine Erklärung nicht ein und sagte zum zweiten Mal, dass es sich bei ihr um einen besonderen Fall handele, der die Gebühr "irrelevant" mache und dass sie die Gebühr keinesfalls bezahlen werde.
Im Dienstleistungsgewerbe ist es das wichtigste, sich nicht provozieren zu lassen. Wenn man eine Idiotin oder einen Idioten vor sich hat, der oder dem man ausgeliefert ist, ist es unbedingt erforderlich, zu lächeln und sie oder ihn nickend zu bestätigen und abzuwarten, bis man sie oder ihn wieder los ist. Ihr oder ihm die Meinung zu sagen, sie oder ihn überzeugen zu wollen, ihr oder ihm gegenüber Recht behalten zu wollen, wäre idiotisch. In der zynischen Bestätigung der Idiotin oder des Idioten liegt die Würde der Dienstleisterin oder des Dienstleisters.
Schmidt beteuerte der Kundin, Verständnis für ihren Einspruch zu haben und versprach ihr, ihren besonderen Fall mit seinem Vorgesetzten, der leider gerade nicht im Hause sei, zu besprechen. Er dürfe hier keinesfalls eine eigenmächtige Entscheidung treffen. Die Kundin stöhnte auf und schüttelte den Kopf. Es war nicht zu fassen, was man ihr hier zumutete. Sie erhob sich energisch und wutentbrannt. Beim Rausgehen knallte sie die Tür. Schmidt verachtete fordernd auftretende Menschen, er war ihnen nicht gewachsen und fühlte sich schlecht bei ihnen.
Zum Glück gab es intern längst eine Absprache für solche Fälle: Sollte die Kundin in dieser Angelegenheit noch mal vorsprechen, kann Schmidt ihr sagen, dass der Vorgesetzte, der sich gerade leider in einem Meeting außer Haus befand, die Erlassung der Gebühr mit Verweis auf die Geschäftsbedingungen bedauerlicherweise abgelehnt habe. Die Gebühr betrug 2,50 Euro pro Jahr.
Schmidt blieb allein im „KuBeR“ (Kunden-Besprechungs-Raum) zurück und blieb einfach sitzen. Der KuBeR war in warmen beige-braun Tönen gehalten, um für eine warme, entspannte Atmosphäre zu sorgen. Er hatte eine Glastür. Vorbeigehende Kollegen konnten sehen, dass er sich allein dort aufhielt. Für den Fall, dass er sich dafür rechtfertigen musste, konnte er behaupten, er müsse das Kundengespräch nachbearbeiten. Vielleicht den Einspruch der Kundin auf eine mögliche juristische Relevanz überprüfen. Irgend so einen Stuss würde er behaupten.
Er war es einfach nur noch leid, ahnte aber, dass seine beruflichen Fertigkeiten außerhalb dieses Unternehmens nirgendwo mehr irgendeine Relevanz besaßen. Er blieb ein mutlos Gefangener, der die Tage im Wandkalender auskreuzt.
Er fuhr den Firmenlaptop hoch und las Nachrichten bei Google News: „In der Nacht von Sonntag auf Montag tötet in Hannover eine 46jährige Frau im Streit ihre 67jährige Freundin. Beide Frauen sind stark alkoholisiert.“
Seitdem Schmidt keine Zeitungen und Zeitschriften mehr las und er sich nur noch im Internet informierte, waren es nur noch solche Nachrichten, die sein echtes Interesse weckten.
Zwischen den Zeilen des Textes und in den hämischen Leserkommentaren war zu lesen, dass es sich bei den Frauen um Angehörige des sogenannten Trinkermilieus handelte: verkrachte Existenzen, die sich auf der instinktiven Suche nach sozialen Kontakten an einschlägig bekannten Plätzen im öffentlichen Raum treffen und sich dort gesellig alkoholisieren. Es sind zumeist Menschen mit einem eher gering einzustufenden Bildungsniveau, die sich auffallend unkultiviert verhalten. Es ist unangenehm, um nicht zu sagen abstoßend, sie um sich zu haben und ihre Existenz mit seinen Steuergeldern auch noch finanzieren zu müssen, ist eine eigentlich unzumutbare Zumutung, eine Provokation für jeden Bürger, der stets bemüht ist, zum Gelingen unserer Gesellschaft einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Auch Schmidt war im Grunde mit dem Kommentarschreiber einer Meinung, der in seinem Kommentar schrieb, dass die Asozialen hierzulande bis zum bitteren Ende vom Staat gewickelt und gepudert werden, so dass sie es nie lernen, sich selbst den Arsch abzuwischen.
Wenn Schmidt sich betrank, dann nur noch allein. In Gesellschaft trank er höchstens zwei, maximal drei Bier. In Gesellschaft die Kontrolle zu verlieren, kann sehr leicht und sehr schnell fatale Folgen haben, die das gesamte restliche Leben ruinieren.
Als er jung war, war geselliges Trinken kein Problem. Man trank aus Spaß und es machte Spaß. Man war glücklich, weil man sich noch der Illusion hingeben konnte, es warte ein schönes und aufregendes Leben auf einen. Mit zunehmendem Alter trinkt man dann aus Verzweiflung oder zumindest aus Kummer über die zerplatzten Hoffnungen, die herben Enttäuschungen und Demütigungen, die ganze Sinnlosigkeit. Man ist zutiefst frustriert und die abstumpfende Wirkung des Alkohols erleichtert. - Aber nur, wenn man allein trinkt.
Mit einer frustrierten oder gar verzweifelten Geisteshaltung in Gesellschaft zu trinken, ist gefährlich für alle Beteiligten. Die Frustration schlägt unter Alkoholeinfluss leicht in Gewalt um. Man liest und hört es immer wieder. In der Regel passiert das Männern. Dass in diesem Fall eine Frau in einen Gewaltrausch geraten war und nun ein Menschenleben auf dem Gewissen hatte, machte den Reiz dieser Nachricht aus.
Wie fühlte sie sich wohl, als sie am nächsten Tag mit einem Mordskater aufwachte? Schmidt schmunzelte, als er sich diese Frage stellte und war dann so von seinem Wortspiel angetan, dass er die Frage in das Kommentarfeld schrieb - zur Verdeutlichung schrieb er Mordskater in Großbuchstaben - und abschickte. Nach einer kurzen Überprüfung seines Kommentars wurde er veröffentlicht und erhielt auch prompt viele Likes. Schmidt fühle sich gleich schon etwas besser.
Außerdem hatte er jetzt die Zeit bis zur Mittagspause erfolgreich überbrückt.