Samstag, 19. Oktober 2019

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Kurz vor Weihnachten und zwischen den Jahren gab es im Betrieb nicht viel zu tun. Viele Kolleginnen und Kollegen, einschließlich der Abteilungsleiterin Frau Schultz-Kramer, hatten Urlaub genommen und Schmidt genoss die Ruhe und ließ die Arbeit noch langsamer als sonst angehen. Er dehnte die Mittagspause solange aus, bis ihm auch das nicht mehr passte. Dann entschloss er sich spontan zu einem Spaziergang um den Block. Die Luft war trocken und eisig, die Sonne schien. Sie stand tief und blendete ihn. Das machte ihn schon nach kurzer Zeit wütend. Als er seine Wut realisierte, drehte er um und ging zurück zur Firma. Dort wartete Herr Schwarz auf ihn. Mit einem breiten Grinsen winkte er Schmidt zu, er solle zu ihm kommen. Widerwillig ging Schmidt zu ihm.
Herr Schwarz war hager und großgewachsen, mit einem schlanken, stolzen Gesicht und schwarzen, nach hinten gegelten Haaren. Schmidt schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Wäre er nicht so verschroben, könnte er mit seiner geradezu aristokratischen Erscheinung und den hellwachen Augen glatt als Frauenschwarm durchgehen. Seine geschmackvoll klassischen Anzüge zeigten aber auch schon erste Anzeichen von Verwahrlosung.
Als Herr Schwarz sich vergewissert hatte, dass sie niemand beobachtete, zeigte er Schmidt mit einer Mischung aus Stolz, diebischer Freude und verschwörerischer Miene sein neustes "Projekt": Parfümschachteln.
Alle fragten sich, wie Herr Schwarz es überhaupt geschafft hatte, eingestellt zu werden. Es gab Mutmaßungen. Frau Klein sagte, die ARGE gibt immer wieder mal hohe Zuschüsse, wenn solch schwer Vermittelbare eingestellt werden. Herr Braun vermutete hingegen, dass er ein Verwandter eines Vorstandsmitglieds sei, so eine Art schwarzes Schaf der Familie. Einig waren sich alle, dass er mit seiner Performance die Probezeit unmöglich überstehen konnte. Sollte er sie überstehen, hat Herr Braun wohl recht mit seiner Verwandtschaftstheorie.
Er zeigte Schmidt den "Prototyp" seiner Parfümschachteln: Eine schwarze Pappschachtel, etwas größer als eine Schachtel Zigaretten, die er innen mit Frischhaltefolie ausgelegt hatte. Auf der Schachtel stand in einem weißen verschnörkelten Schriftzug "Pure Life - The True Smell".
"Ich werde sie heimlich in sämtlichen Parfümgeschäften ins Sortiment einstellen", flüsterte er Schmidt zu. "NACHDEM ICH SIE MIT KLEINEN FISCHABFÄLLEN BEFÜLLT HABE!" platze es dann aus ihm heraus und er bekam einen Lachanfall, bei dem es sich auch um einen Weinkrampf hätte handeln können.
An seinem zweiten Tag in der Firma hatte sich Herr Schwarz in der Mittagspause zu Schmidt an den Kantinentisch gesetzt und ihn gefragt, ob er auch schon die derzeitige Beuys Retrospektive in der Kunsthalle besucht habe oder es vorhabe. Sie teilten sich ein Büro,  wieso musste er sich auch in der Pause zu ihm setzen? Es waren noch ganze Tischreihen frei.
Schmidt antwortete, dass er an Joseph Beuys ungefähr soviel Interesse hege wie am vorvorletzten Gewinner von "Deutschland sucht das Supertalent". Aus irgendeinem Grund dazu animiert hielt ihm daraufhin Herr Schwarz einen Vortrag über Joseph Beuys. Er begann mit dem Einfluss von Rudolf Steiners Anthroposophie auf sein Konzept der Sozialen Plastik und er endete mit Beuys werkimmanenten Humanismus, den er persönlich früher sehr bewundert habe, inzwischen aber nur noch als lächerlich erachte. Er werde die Ausstellung deswegen auch nicht besuchen.
Nach dem Essen überprüfte Schmidt im Internet seine Aussagen über Beuys. Was er ihm erzählt hatte, stimmte soweit. Vielleicht hatte er mal Kunst studiert und war nicht zuletzt deswegen jetzt so eine verkrachte Existenz.
Sollte Herr Schwarz nach Beendigung seiner Probezeit übernommen werden, musste sich Schmidt etwas einfallen lassen. Allein die Vorstellung, auf Dauer sein Büro mit ihm teilen zu müssen, war ihm ein Gräuel. Sich bei Frau Schultz-Kramer über ihn zu beschweren, wird ihm nicht helfen, wahrscheinlich sogar nach hinten losgehen. Vielleicht könnte er etwas Verfängliches in seinem Schreibtisch deponieren. In einem von Missgunst und Gehässigkeit geprägten Arbeitsklima sollte es einfach sein, einen Kollegen loszuwerden, der im Kollegium weder über Ansehen noch Sympathie verfügt. Da wartet im Grunde jeder nur darauf, dass irgendjemand mal endlich aktiv wird. Jede noch so haltlose Anschuldigung ist höchst willkommen, sei es auch nur, um der Unterhaltung und Abwechslung wegen.