Samstag, 19. Oktober 2019

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Schmidt sollte sein Büro nicht lange für sich allein behalten. Schon zwei Wochen nach dem denkwürdigen und noch lange Zeit für Gesprächsstoff sorgenden Abschied von Herrn Schwarz bekam er eine neue Kollegin zugeteilt.
Herr Schwarz hatte an dem Tag ein signalrotes Sakko bei der Arbeit getragen und als ob das noch nicht verrückt genug gewesen wäre, war er in die Büros gestürmt und hatte gebrüllt: „Mein Schamhaar hat eine Hitlerbartfrisur, denn mein Pimmel ist ein Faschist, ein Faschist, ein Faschist! Heil, Pimmel!“ Frau Schultz-Kramer hatte den sozialpsychatrischen Dienst gerufen, der Herrn Schwarz dann mitgenommen hatte.
Sheela war unkompliziert und äußerst attraktiv. Ihre Mutter war Inderin, ihr Vater Deutscher mit französischen Vorfahren. Schmidt hatte schon häufiger festgestellt, dass sehr schöne Frauen, die über ein gewisses Maß an Intelligenz verfügen, sehr oft sehr freundlich, offen und unkompliziert sind oder sich zumindest so verhalten. Wahrscheinlich, weil sie ansonsten schnell als arrogant gelten und gemieden werden. Und soziale Ausgrenzung ist für eine Frau (neben einer missglückten Frisur) mit Abstand das schlimmste, was ihr passieren kann.
Schmidt wurde beauftragt, sich um ihre Einarbeitung zu kümmern.  Sie hatte, genau wie Schmidt damals, ihr Studium abgebrochen und wurde als Quereinsteigerin zur Probe eingestellt. In Germanistik und Philosophie war sie vier Semester lang immatrikuliert gewesen. Es waren in erster Hinsicht die schlechten Berufsaussichten – bestenfalls hatte man mit so einem akademischen Abschluss eine Chance als Redakteur in einem prekären Arbeitsverhältnis -, die sie dazu bewogen hatte, das Studium abzubrechen.
Sheela lernte schnell. Schmidt hatte noch nie einen Menschen mit einer derartigen Auffassungsgabe erlebt. Kaum hatte er ihr was erklärt, stellte sie Fragen, die nicht nur erkennen ließen, dass sie es verstanden hatte, sondern auch noch weitere Erklärungen vorwegnahmen. Als Schmidt sie in die Module Kalkulation und Statistik einarbeitete, demonstrierte sie ihm, wie man seine Statistikabfragen für eine effektivere Auswertung ganz einfach optimieren könne.
Nach einem Monat arbeitete Sheela völlig selbständig und brauchte Schmidt keine Fragen mehr zu stellen. Zudem lieferte sie bereits jetzt gute Ergebnisse. Schmidt wurde zum ersten Mal bewusst, wie leicht er hier austauschbar wäre. Aber da er seine Arbeit verachtete, bedeutete ihm das nichts. Es überraschte ihn selbst, wie egal es ihm war.
Sheela hatte es neben der Aneignung der fachlichen Kompetenz auch in der kurzen Zeit geschafft, sich im Kollegium beliebt zu machen. Vor allem die männlichen Belegschaft hielt große Stücke auf sie. Schmidt schwärmte auch für sie, war sich aber völlig darüber im Klaren, dass er niemals mehr als ihr Arbeitskollege sein wird. Aber sie war da, saß ihm gegenüber und er genoss ihre Schönheit und Freundlichkeit. Es bedeutete ihm viel, ihre Anwesenheit half ihm über den Arbeitstag.