Samstag, 19. Oktober 2019

Schmidt
(Manuskript in 20 Teilen)


1

Ihr kleiner Mund hatte sich seit Jahrzehnten nicht mehr zu einem Lächeln verzogen. Sie trug eine rote Funktionsjacke mit vielen Klett- und Reißverschlüssen und großen Taschen und sie sagte, sie sehe nicht ein, diese Gebühr zu zahlen, da in ihrem besonderen Fall diese „keinerlei Relevanz besitze“. Keinesfalls werde sie die Gebühr bezahlen.
Schmidt griff sich einen Kugelschreiber mit dem neuen Unternehmenslogo, um sich Notizen zu machen. Das neue Unternehmenslogo war nur eine leichte Variation des vorherigen Logos. Die Grafikdesignerin hatte lediglich die Schrifttype etwas schlanker gemacht. Dennoch wurde alles, auf dem das vorherige Logo zu sehen war, mit dem Tag der Einführung des neuen Logos konsequent und gewissenhaft entsorgt. Schmidt war diese Verschwendung zuwider gewesen und so hatte er noch einige Kugelschreiber und Notizblöcke für den privaten Gebrauch nach Hause gerettet, obwohl die Geschäftsleitung dies ausdrücklich untersagt hatte. Das neue Logo sollte sich schnellstmöglich etablieren und das alte verschwinden. Das war von enormer Wichtigkeit.
Die Notizen machte Schmidt, um der Kundin zu signalisieren, dass er sie und ihr Anliegen ernst nahm. Dies war eine der Taktiken, die er bei einer Fortbildung zum Thema „Umgang mit schwierigen Kunden“ gelernt hatte. Die Bezeichnung „schwieriger Kunde“ empfand er übrigens als unangebracht. Mit „schwierig“ assoziierte er Tiefe und Komplexität. Schwierige Kunden sind aber seiner Erfahrung nach in der Regel einfach nur egozentrisch.
Er schrieb auf den eben noch jungfräulichen, mit dem neuen Logo bedruckten  Notizblock: „Vorsatz: Ich werde ab sofort jeden Gedanken an meine Arbeit, der mir in meiner Freizeit kommt, mit einem Klospülgeräusch quittieren und beenden.“
Schmidt übte sich täglich darin, seine Arbeit als lachhafte Absurdität zu betrachten, die ihm lediglich sein Leben finanziert.
Er erklärte der Kundin, dass die Gebühr pauschal erhoben wird. Eine Einzelfallprüfung wäre mit einem hohen Arbeitsaufwand verbunden, der dazu führen würde, dass die dabei entstehenden Kosten letztendlich den Kunden angelastet werden würde. Somit stiege die Gebühr insgesamt. Im Übrigen sei die Gebühr in den Geschäftsbedingungen, die sie mit ihrer Unterschrift bei Vertragsabschluss akzeptiert habe, eindeutig und klar ersichtlich aufgeführt.
Sie ging auf seine Erklärung nicht ein und sagte zum zweiten Mal, dass es sich bei ihr um einen besonderen Fall handele, der die Gebühr "irrelevant" mache und dass sie die Gebühr keinesfalls bezahlen werde.
Im Dienstleistungsgewerbe ist es das wichtigste, sich nicht provozieren zu lassen. Wenn man eine Idiotin oder einen Idioten vor sich hat, der oder dem man ausgeliefert ist, ist es unbedingt erforderlich, zu lächeln und sie oder ihn nickend zu bestätigen und abzuwarten, bis man sie oder ihn wieder los ist. Ihr oder ihm die Meinung zu sagen, sie oder ihn überzeugen zu wollen, ihr oder ihm gegenüber Recht behalten zu wollen, wäre idiotisch. In der zynischen Bestätigung der Idiotin oder des Idioten liegt die Würde der Dienstleisterin oder des Dienstleisters.
Schmidt beteuerte der Kundin, Verständnis für ihren Einspruch zu haben und versprach ihr, ihren besonderen Fall mit seinem Vorgesetzten, der leider gerade nicht im Hause sei, zu besprechen. Er dürfe hier keinesfalls eine eigenmächtige Entscheidung treffen. Die Kundin stöhnte auf und schüttelte den Kopf. Es war nicht zu fassen, was man ihr hier zumutete. Sie erhob sich energisch und wutentbrannt. Beim Rausgehen knallte sie die Tür. Schmidt verachtete fordernd auftretende Menschen, er war ihnen nicht gewachsen und fühlte sich schlecht bei ihnen.
Zum Glück gab es intern längst eine Absprache für solche Fälle: Sollte die Kundin in dieser Angelegenheit noch mal vorsprechen, kann Schmidt ihr sagen, dass der Vorgesetzte, der sich gerade leider in einem Meeting außer Haus befand, die Erlassung der Gebühr mit Verweis auf die Geschäftsbedingungen bedauerlicherweise abgelehnt habe. Die Gebühr betrug 2,50 Euro pro Jahr.
Schmidt blieb allein im „KuBeR“ (Kunden-Besprechungs-Raum) zurück und blieb einfach sitzen. Der KuBeR war in warmen beige-braun Tönen gehalten, um für eine warme, entspannte Atmosphäre zu sorgen. Er hatte eine Glastür. Vorbeigehende Kollegen konnten sehen, dass er sich allein dort aufhielt. Für den Fall, dass er sich dafür rechtfertigen musste, konnte er behaupten, er müsse das Kundengespräch nachbearbeiten. Vielleicht den Einspruch der Kundin auf eine mögliche juristische Relevanz überprüfen. Irgend so einen Stuss würde er behaupten.
Er war es einfach nur noch leid, ahnte aber, dass seine beruflichen Fertigkeiten außerhalb dieses Unternehmens nirgendwo mehr irgendeine Relevanz besaßen. Er blieb ein mutlos Gefangener, der die Tage im Wandkalender auskreuzt.
Er fuhr den Firmenlaptop hoch und las Nachrichten bei Google News: „In der Nacht von Sonntag auf Montag tötet in Hannover eine 46jährige Frau im Streit ihre 67jährige Freundin. Beide Frauen sind stark alkoholisiert.“
Seitdem Schmidt keine Zeitungen und Zeitschriften mehr las und er sich nur noch im Internet informierte, waren es nur noch solche Nachrichten, die sein echtes Interesse weckten.
Zwischen den Zeilen des Textes und in den hämischen Leserkommentaren war zu lesen, dass es sich bei den Frauen um Angehörige des sogenannten Trinkermilieus handelte: verkrachte Existenzen, die sich auf der instinktiven Suche nach sozialen Kontakten an einschlägig bekannten Plätzen im öffentlichen Raum treffen und sich dort gesellig alkoholisieren. Es sind zumeist Menschen mit einem eher gering einzustufenden Bildungsniveau, die sich auffallend unkultiviert verhalten. Es ist unangenehm, um nicht zu sagen abstoßend, sie um sich zu haben und ihre Existenz mit seinen Steuergeldern auch noch finanzieren zu müssen, ist eine eigentlich unzumutbare Zumutung, eine Provokation für jeden Bürger, der stets bemüht ist, zum Gelingen unserer Gesellschaft einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Auch Schmidt war im Grunde mit dem Kommentarschreiber einer Meinung, der in seinem Kommentar schrieb, dass die Asozialen hierzulande bis zum bitteren Ende vom Staat gewickelt und gepudert werden, so dass sie es nie lernen, sich selbst den Arsch abzuwischen.
Wenn Schmidt sich betrank, dann nur noch allein. In Gesellschaft trank er höchstens zwei, maximal drei Bier. In Gesellschaft die Kontrolle zu verlieren, kann sehr leicht und sehr schnell fatale Folgen haben, die das gesamte restliche Leben ruinieren.
Als er jung war, war geselliges Trinken kein Problem. Man trank aus Spaß und es machte Spaß. Man war glücklich, weil man sich noch der Illusion hingeben konnte, es warte ein schönes und aufregendes Leben auf einen. Mit zunehmendem Alter trinkt man dann aus Verzweiflung oder zumindest aus Kummer über die zerplatzten Hoffnungen, die herben Enttäuschungen und Demütigungen, die ganze Sinnlosigkeit. Man ist zutiefst frustriert und die abstumpfende Wirkung des Alkohols erleichtert. - Aber nur, wenn man allein trinkt.
Mit einer frustrierten oder gar verzweifelten Geisteshaltung in Gesellschaft zu trinken, ist gefährlich für alle Beteiligten. Die Frustration schlägt unter Alkoholeinfluss leicht in Gewalt um. Man liest und hört es immer wieder. In der Regel passiert das Männern. Dass in diesem Fall eine Frau in einen Gewaltrausch geraten war und nun ein Menschenleben auf dem Gewissen hatte, machte den Reiz dieser Nachricht aus.
Wie fühlte sie sich wohl, als sie am nächsten Tag mit einem Mordskater aufwachte? Schmidt schmunzelte, als er sich diese Frage stellte und war dann so von seinem Wortspiel angetan, dass er die Frage in das Kommentarfeld schrieb - zur Verdeutlichung schrieb er Mordskater in Großbuchstaben - und abschickte. Nach einer kurzen Überprüfung seines Kommentars wurde er veröffentlicht und erhielt auch prompt viele Likes. Schmidt fühle sich gleich schon etwas besser.
Außerdem hatte er jetzt die Zeit bis zur Mittagspause erfolgreich überbrückt.
2

Schmidt saß in der Kantine allein am Tisch, weil er immer zusah, dass er in der Kantine allein am Tisch saß, weil er beim Essen gern seine Ruhe hatte. Dann setzten sich die drei neuen Auszubildenden zu ihm an den Tisch. Sie quakten und quasselten in ihrer jugendlichen Manie drauf los, als stünden sie im Wettstreit, wer es schafft, die anderen am schrillsten und lautesten zu übertönen.
Schmidt war verärgert, sie lenkten ihn von seinem Essen ab. Er konnte sich nicht mehr voll und ganz darauf einlassen und es nicht mehr wirklich genießen.
Sie sprachen über Akne. Keine der drei hatte ein Problem mit Akne. Ihre Gesichter und Hälse waren glatt und makellos, genau so makellos wie ihre Frisuren, ihr Make-up und überhaupt ihre ganzen Aufmachungen. Die dickste von ihnen, eine Blondine mit einer Stupsnase, die ihrem Gesicht in Verbindungen mit den dicken Backen und den kleinen Augen etwas Schweinchenhaftes verlieh, sagte, dass sich das Ausdrücken und Aufplatzen eines dicken, ausgereiften Eiterpickels doch irgendwie genauso anfühle wie ein Orgasmus. Das machte die anderen beiden für einen Moment sprachlos. Schmidt dachte: Wenn sich bei einer Frau so ein Orgasmus anfühlt, kann ich gut verstehen, warum so viele Frauen ein Problem damit haben. Viel zu gehemmt und ohnehin von der Situation überfordert behielt Schmidt seinen Gedanken für sich.
Die drei schauten zu ihm rüber. Hatte der etwa ihr Gespräch mitverfolgt? Sie steckten ihre Köpfe zusammen und fingen an zu kichern. Schmidt wurde verlegen und wütend. Stur aß er weiter, ohne überhaupt mitzubekommen, was er sich da in den Mund schaufelte.
Die Mädchen beruhigten sich wieder und wechselten das Thema. Schmidt merkte aus den Augenwinkeln, dass die dicke Blondine ihm immer wieder verstohlene Blicke zuwarf. Sie war zwar dick, aber die Proportionen stimmten. Schmidts Wut war verflogen, die Blicke der Blondine erregten ihn. Obwohl er längst aufgegessen hatte, blieb er sitzen.
Als die drei aufstanden und gingen, schaute Schmidt ihnen nach. Die beiden anderen Mädchen hatten eine erheblich bessere Figur, dennoch starrte Schmidt der Dicken auf den breiten Hintern. Er nahm sich vor, sie in eine Masturbationsphantasie einzubauen. Da trägt sie ein eng geschnürtes Mieder, das ihre wuchtigen Brüste hervor presst und so nuttige schwarze Lacklederstiefel, die ihr bis über die Knie reichten. Dann stand auch er auf und ging in sein Büro.
"WIEVIEL FRAUEN BRAUCHT EIN ERFOLGREICHER MANN?" brüllte Herr Schwarz, kaum dass Schmidt eingetreten war. Schmidt schaute ihn fassungslos an.
"ZWEI! EINE, DIE HINTER IHM STEHT UND EINE, DIE VOR IHM LIEGT!" Herr Schwarz sprang von seinem Stuhl auf und ohne überhaupt Schmidts Reaktion auf seinen Witz abzuwarten, stürmte er hysterisch lachend aus dem Büro.
Immerhin hatte Schmidt jetzt das Büro für sich. Er musste an dem Tag noch die Monatsstatistik abschließen. Routinearbeit, langweilig und sinnlos. Er dachte währenddessen an die Blondine und schmückte seine Phantasie mit weiteren Details aus.
Die Statistiken wurden ausgedruckt, zur Einsicht für alle Interessierten in chronologisch aufgestellten Leitz-Ordnern abgeheftet und nach drei Jahren geschreddert. Schmidt baute seit Jahren schon bewusst Zahlendreher ein, damit sich die Aussagen offensichtlich widersprachen. Noch nie war das irgendjemanden aufgefallen.
Als Herr Schwarz wiederkam, war er für den Rest des Tages ruhig. So provozierend ruhig, als erwarte er, dass Schmidt sich nach seinem Befinden erkunden solle. Aber Schmidt ließ sich nicht darauf ein.
Der Dienstschluss war wie jedes Mal eine Erlösung.
Nach einer gefühlten Drei-Stunden-stop-and-go-Staufahrt im Feierabendverkehr, die in Wirklichkeit eine dreiviertel Stunde dauerte, fand Schmidt wieder mal nur einen Parkplatz zwei Straßen von seiner Wohnung entfernt. Er schloss seinen Audi ab und betrachtete ihn nochmal, wie er es immer tat, wenn er ihn abgeschlossen hatte. Er liebte seinen Audi, die Präzision in der Verarbeitung, das zurückhaltende Design, in dem sich Eleganz und Sportlichkeit vereinten. Damit konnte er sich identifizieren. Für ihn war der Audi ein Musterbeispiel deutscher Ingenieurskunst. Schmidt hatte immer schon Ingenieure und was sie erschaffen konnten bewundert. Ihnen haben wir unseren Wohlstand in Deutschland zu verdanken. Nicht irgendwelchen intellektuellen Schwätzern. Er wäre gern Ingenieur geworden, aber seine schulischen Leistungen in den mathematisch naturwissenschaftlichen Fächern waren zu schlecht für ein entsprechendes Studium gewesen. Stattdessen hatte er sich für diesen geisteswissenschaftlichen Unfug eingeschrieben, den er nach sechs Semestern abgebrochen hatte.
Schmidt drehte sich um und machte sich auf den Weg nach Hause und da sah er ihn schon kommen. Mit einem überschwänglichen Lächeln kam er auf ihn zu. Sein Anblick war so erfreulich wie grüner Rotz auf dem Bürgersteig am Montagmorgen auf dem Weg zur Arbeit.
Schmidt beschleunigte seinen Schritt, um es schneller hinter sich zu bringen. Ein Ausweichen war nicht mehr möglich.
"Hallo, mein Freund! Wie geht es dir?"
Erstens bin ich nicht Ihr Freund und zweitens geht es Sie einen Dreck an, wie es mir geht! Dieser leichtfertige und völlig unangemessene Umgang mit dem Wort „Freund“ machte Schmidt jedes Mal wieder aufs Neue fassungslos.
"Muss ja", antwortete Schmidt mit einem falschen Lächeln, weil es sich ja nur um einen Austausch von Floskeln handelte.
Schmidt hatte beruflich nur ein einziges Mal mit ihm bei einer Kundenberatung zu tun gehabt und seitdem wurde er vom ihm bei jeder Gelegenheit angesprochen. Er musste bei Schmidt in der Nähe wohnen, ständig lief er ihm über den Weg. Seine Aufdringlichkeit widerte ihn an. Das und die Entwertung des Begriffs „Freund“.
Er war Südländer: Italiener, Türke, Spanier, Portugiese (Schmidt wusste es nicht mehr). Gedrungener Körper, kurz- und breitbeinig, kraftmeierisch daherkommend, vorlaut und verschmitzt, ein lebendes Klischee. Seine Unbekümmertheit und zur Schau gestellte Lebensfreude überforderten Schmidt.
Gegenüber Südländern war er grundsätzlich voreingenommen. Sie sind emotional gesteuert und das "südländische Temperament" hat in der Regel zwei Seiten: Herzlichkeit und Aggressivität. Laut sind sie in jedem Fall, allein das machte sie ihm unsympathisch. Und die vielbeschworene südländische Gastfreundschaft war seiner Überzeugung nach nichts anderes als ein Ausdruck tradierter Prahlerei. Schmidt bevorzugte Kulturen, die Wert auf eine kontrollierte Emotionalität legen, auf Zurückhaltung und Diskretion.
"Hau rein!", rief er Schmidt noch nach. Schmidt lächelte und winkte ihm nach, als sei es ihm wieder mal ein Vergnügen gewesen, seinen alten Freund wiederzutreffen.
Er stellte ein Fertiggericht in die Mikrowelle, Lasagne Bolognese. Schmidt lebte allein. Er hatte noch eine Schwester. Die lebte, ebenfalls allein, am anderen Ende von Deutschland. Die beiden waren sich in vielerlei Hinsicht ähnlich, deswegen mochten sie sich nicht besonders und mieden einander. Seit dem Unfalltod ihrer Eltern auf der Autobahn vor elf Jahren - ein übermüdeter LKW-Fahrer hatte das Stauende nicht bemerkt - und der organisatorischen Abwicklung des elterlichen Nachlasses, den beide erschreckend dürftig befanden, hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt.
Schmidt aß die Lasagne direkt aus der Verpackungsschale, um Geschirr zu sparen und knipste sich dabei durchs abendliche Fernsehprogramm. Es war völlig egal, was im Fernseher lief. Es waren akustische und optische Stimulanzien, die ihm irgendwie halfen.
Um halb elf machte Schmidt den Fernseher aus und ging ins Bett.
Auf der linken Seite liegend, damit er den rechten Arm frei hatte, dachte an die dicke Blondine. Sein Verlangen nach ihr war ein rein pornographisches, das man am ehesten für Frauen empfindet, die man eigentlich verachtet. Er streichelte und knetete seine Genitalien, aber sein Penis blieb schlaff und klein.
3

Kurz vor Weihnachten und zwischen den Jahren gab es im Betrieb nicht viel zu tun. Viele Kolleginnen und Kollegen, einschließlich der Abteilungsleiterin Frau Schultz-Kramer, hatten Urlaub genommen und Schmidt genoss die Ruhe und ließ die Arbeit noch langsamer als sonst angehen. Er dehnte die Mittagspause solange aus, bis ihm auch das nicht mehr passte. Dann entschloss er sich spontan zu einem Spaziergang um den Block. Die Luft war trocken und eisig, die Sonne schien. Sie stand tief und blendete ihn. Das machte ihn schon nach kurzer Zeit wütend. Als er seine Wut realisierte, drehte er um und ging zurück zur Firma. Dort wartete Herr Schwarz auf ihn. Mit einem breiten Grinsen winkte er Schmidt zu, er solle zu ihm kommen. Widerwillig ging Schmidt zu ihm.
Herr Schwarz war hager und großgewachsen, mit einem schlanken, stolzen Gesicht und schwarzen, nach hinten gegelten Haaren. Schmidt schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Wäre er nicht so verschroben, könnte er mit seiner geradezu aristokratischen Erscheinung und den hellwachen Augen glatt als Frauenschwarm durchgehen. Seine geschmackvoll klassischen Anzüge zeigten aber auch schon erste Anzeichen von Verwahrlosung.
Als Herr Schwarz sich vergewissert hatte, dass sie niemand beobachtete, zeigte er Schmidt mit einer Mischung aus Stolz, diebischer Freude und verschwörerischer Miene sein neustes "Projekt": Parfümschachteln.
Alle fragten sich, wie Herr Schwarz es überhaupt geschafft hatte, eingestellt zu werden. Es gab Mutmaßungen. Frau Klein sagte, die ARGE gibt immer wieder mal hohe Zuschüsse, wenn solch schwer Vermittelbare eingestellt werden. Herr Braun vermutete hingegen, dass er ein Verwandter eines Vorstandsmitglieds sei, so eine Art schwarzes Schaf der Familie. Einig waren sich alle, dass er mit seiner Performance die Probezeit unmöglich überstehen konnte. Sollte er sie überstehen, hat Herr Braun wohl recht mit seiner Verwandtschaftstheorie.
Er zeigte Schmidt den "Prototyp" seiner Parfümschachteln: Eine schwarze Pappschachtel, etwas größer als eine Schachtel Zigaretten, die er innen mit Frischhaltefolie ausgelegt hatte. Auf der Schachtel stand in einem weißen verschnörkelten Schriftzug "Pure Life - The True Smell".
"Ich werde sie heimlich in sämtlichen Parfümgeschäften ins Sortiment einstellen", flüsterte er Schmidt zu. "NACHDEM ICH SIE MIT KLEINEN FISCHABFÄLLEN BEFÜLLT HABE!" platze es dann aus ihm heraus und er bekam einen Lachanfall, bei dem es sich auch um einen Weinkrampf hätte handeln können.
An seinem zweiten Tag in der Firma hatte sich Herr Schwarz in der Mittagspause zu Schmidt an den Kantinentisch gesetzt und ihn gefragt, ob er auch schon die derzeitige Beuys Retrospektive in der Kunsthalle besucht habe oder es vorhabe. Sie teilten sich ein Büro,  wieso musste er sich auch in der Pause zu ihm setzen? Es waren noch ganze Tischreihen frei.
Schmidt antwortete, dass er an Joseph Beuys ungefähr soviel Interesse hege wie am vorvorletzten Gewinner von "Deutschland sucht das Supertalent". Aus irgendeinem Grund dazu animiert hielt ihm daraufhin Herr Schwarz einen Vortrag über Joseph Beuys. Er begann mit dem Einfluss von Rudolf Steiners Anthroposophie auf sein Konzept der Sozialen Plastik und er endete mit Beuys werkimmanenten Humanismus, den er persönlich früher sehr bewundert habe, inzwischen aber nur noch als lächerlich erachte. Er werde die Ausstellung deswegen auch nicht besuchen.
Nach dem Essen überprüfte Schmidt im Internet seine Aussagen über Beuys. Was er ihm erzählt hatte, stimmte soweit. Vielleicht hatte er mal Kunst studiert und war nicht zuletzt deswegen jetzt so eine verkrachte Existenz.
Sollte Herr Schwarz nach Beendigung seiner Probezeit übernommen werden, musste sich Schmidt etwas einfallen lassen. Allein die Vorstellung, auf Dauer sein Büro mit ihm teilen zu müssen, war ihm ein Gräuel. Sich bei Frau Schultz-Kramer über ihn zu beschweren, wird ihm nicht helfen, wahrscheinlich sogar nach hinten losgehen. Vielleicht könnte er etwas Verfängliches in seinem Schreibtisch deponieren. In einem von Missgunst und Gehässigkeit geprägten Arbeitsklima sollte es einfach sein, einen Kollegen loszuwerden, der im Kollegium weder über Ansehen noch Sympathie verfügt. Da wartet im Grunde jeder nur darauf, dass irgendjemand mal endlich aktiv wird. Jede noch so haltlose Anschuldigung ist höchst willkommen, sei es auch nur, um der Unterhaltung und Abwechslung wegen.

4

Dass Schmidt Weihnachten allein verbringen musste, belastete ihn nicht. Es waren freie Tage, die er nicht in der Firma sein musste.
Er erinnerte sich gut an die letzten Weihnachten, die er und seine Schwester bei ihren Eltern verbracht hatten. Schon allein die Hin- und Rückfahrt auf den überfüllten Straßen waren eine Zumutung, für die er das gesamte Weihnachtsfest am liebsten hätte ausfallen lassen. Er erinnerte sich an die mit Weihnachtsdekoration - industriell hergestelltes Kunsthandwerk - ausstaffierte gute Stube seiner Eltern, an den immer gleich geschmückten Weihnachtsbaum, an den Mief der Wandschränke und der Polstergarnitur, an die immer gleichen alten Geschichten und immer gleichen Floskeln, an die Interessen-, Verständnis- und Sprachlosigkeit, an der nicht mal der sich irgendwann bemerkbar machende Alkohol etwas ausrichtete. Sie konnten so wenig miteinander anfangen, dass es nicht einmal zu harmlosen Streitereien kam. Ihre gegenseitigen Geschenke waren ein schlechter Scherz, ein peinlicher Beweis ihrer Beziehungslosigkeit.
Er lag die meiste Zeit auf dem Sofa. Er aß Süßigkeiten und und im Fernseher liefen die alten Filme aus seiner Kindheit und Jugend, die ihm ein Gefühl von Geborgenheit und Heimeligkeit gaben.
Auch an Silvester unternahm er nichts außergewöhnliches. Er legte sich mit Ohropax früh ins Bett und verschlief den Jahreswechsel.
Das neue Jahr war da und Schmidt stand ihm ratlos gegenüber. Der Neujahrstag fiel auf einen Freitag, so dass er ein langes Wochenende vor sich hatte. Fast wünschte er, dass er wieder zur Arbeit muss. Dort verging die Zeit zumindest schneller.
5

Schmidt musste sich beeilen. Der Discounter machte um 20 Uhr zu. Es war viertel vor, als er mit einem Einkaufswagen die Schiebetür passierte. Im Eingangsbereich stand ihm ein junger Mann im Weg. Die Großspurigkeit in Person: großspurige Turnschuhe, großspurige Jogginghose, großspurige Jacke mit großspurigem Aufdruck. Er führte zwei Bullterrier mit sich. Einer war jung, der andere älter und auffallend vernarbt. Sogar seine Art zu telefonieren war großspurig. Breitbeinig stand er den anderen Kunden im Weg, von denen keiner es wagte, sich zu beschweren, und teilte seinem Gesprächsteilnehmer volltönend und zugleich verschwörerisch mit, dass er sich gerade bei Lidl befinde.
Ganz offensichtlich handelte es sich um einen Dummkopf, aber Schmidt beneidete ihn um seine Präsenz, seine Einfachheit und sein Selbstvertrauen. Das ist doch nur ein armseliger Wicht, der durch seine Fassade sein mickriges Ich kompensieren muss, war die gängige Meinung über solche Gestalten, aber für Schmidt waren alle Menschen im Inneren mickrig. Wir sind hilflos und verkorkst, alle miteinander. Und es ist die Fassade, die entscheidet, ob wir oben schwimmen oder unten in der Scheiße stecken. Sie hält uns aufrecht, nicht das viel beschworene Rückgrat. Das Rückgrat macht uns nur Probleme, vor allem bei eingeschränkter Flexibilität. Nicht umsonst stecken wir in die Fassade soviel Zeit und Energie und lassen sie uns einiges kosten. Außerdem ist dieser Typ mit Sicherheit unterm Strich zufriedener mit sich und seinem Leben als die meisten. Egal wie modern und kultiviert eine Gesellschaft auch sein mag, die brutale Dummdreistigkeit wird darin immer eine Nische finden und bis zu einem gewissen Grad auch erfolgreich sein.
Wahrscheinlich hat er auch mit mehr Frauen Umgang, als die meisten Männer jemals haben werden: junge und dumme Dinger, die sich leicht rumkriegen und ebenso leicht wieder abservieren lassen.
Die Liebe ist eine miese Suggestivlüge, genau wie Religion. Der Geschlechtsakt hingegen ist real. Schmidt redete sich in Rage und schob den Einkaufwagen ziellos durch die mannshohen Warenschluchten, bis er sich wieder beruhigte und seinen überschaubaren Einkaufszettel routiniert abarbeitete.
Als er zu Hause seine Einkäufe verstaute, wurde ihm bewusst, dass er bereits seit Jahren immer die gleichen Produkte kaufte. Nicht einmal bei den Käsesorten probierte er etwas Neues. Er hatte Sehnsucht nach Veränderung, nach einer Partnerin.
6

Die Tage wurden länger und wärmer. Der Frühling stellte sich ein. Die Kollegen, vor allem die Kolleginnen schwärmten von der Sonne und dem aufkeimenden Grün. Sie waren gut gelaunt und ganz aufgekratzt. Schmidt realisierte den Frühling in erster Linie dadurch, dass er tagsüber seine Wohnung nicht mehr heizen musste. Das fand er gut, aber deswegen in eine Schwärmerei zu verfallen? Dazu sah er keine Notwendigkeit.
Allerdings hatte er sich bei einer „Gratis“-Singlebörse im Internet angemeldet. Da er die 40 überschritten hatte, waren nächtliche Kneipentouren zum Frauenkennenlernen, wie er es in seinen 20er Jahren getan hatte, schon lange keine Option mehr. Überhaupt kam er, wenn er es sich recht überlegte, mit anderen Menschen außerhalb der Firma seit mehreren Jahren schon nicht mehr in Kontakt. Er hatte kein Hobby, das ihn hätte sozial einbinden können. So schien ihm so eine Vermittlung per Internet ein sinnvoller Schritt zu sein.
Die meisten Frauen seines Alters in der Singlebörse waren übergewichtige, alleinerziehende Mütter, die dringend einen Versorger suchten. Auch wenn es keine offen zugab, war es offensichtlich. Ihre Ansprüche waren enorm. Viele wünschten sich einen Mann, der idealerweise das gesamte Rollenspektrum zwischen knallhartem Macho und verständnisvollem Softie beherrscht und jederzeit ihren Launen und Bedürfnissen entsprechend abrufen kann. In dieser Anspruchshaltung sahen sie eine Bestätigung ihrer Emanzipation und starken Persönlichkeit. Wenn ein Mann sich eine Frau wünscht, die idealerweise das gesamte Rollenspektrum zwischen biederer Hausfrau und tabuloser Nymphomanin beherrscht und jederzeit seinen Launen und Bedürfnissen entsprechend abrufen kann, ist er ein sexistisches Schwein.
Schmidt schrieb einige kinderlose Frauen im Alter zwischen Ende zwanzig und Mitte dreißig an, aber zunächst ohne Erfolg. Er erhielt keine Antworten oder standardisierte Absagen. Die einzigen Nachrichten, die er erhielt, waren offensichtlich von gefälschten Profilen. Er sollte einen Link anklicken, aber Schmidt war kein Idiot.
Die erste richtige Antwort von einem echten Profil kam von „SuperMaus72“. Sie sah ausgesprochen gut aus auf dem Foto: lange blonde Haare, knallrote Lippen und Zähne aus einer Zahnpastawerbung. Sie war 32, arbeitete als Altenpflegerin und zu ihrem perfekten Glück fehlte ihr nur noch eine starke und verständnisvolle Schulter zum Anlehnen und Kuscheln. Schmidt wurde schnell klar, dass „SuperMaus72“ keine potentielle Partnerin war. Sie war einfältig und langweilig. Ihre Textnachrichten waren voller Rechtschreibfehler und übersät mit albernen Emojis. Das Profilbild war mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht realistisch. Schmidt machte sich einen Spaß daraus und präsentierte sich ihr gegenüber als erfolgreicher Unternehmer in einem Event-Catering-Business und zeigte für alles Verständnis, was sie ihm mitteilte.
Nachdem sie sich viermal geschrieben hatten und Schmidt langsam schon das Interesse an dieser Farce verloren hatte, fragte sie ihn, was für eine Meinung er zum Thema Sex hätte. Schmidt legte sich die ersten Floskeln zurecht: "ist schon wichtig, aber für eine erfüllte Beziehung sind andere Dinge von größerer Bedeutung", "die schönste Nebensache der Welt", "man darf sich nicht von den übersexualisierten Medien beeinflussen lassen"… Aber dann kam ihm der Gedanke, dass sie ihn mit der Frage vielleicht aus der Reserve locken wollte, weil sie zu Recht den Verdacht hegte, er sei nicht hundertprozentig ehrlich zu ihr. Kurzerhand schrieb er ihr seine ehrliche Meinung: "Im Geschlechtsakt offenbart der Mensch seine Lächerlichkeit: Er ist ein schwitzender, fellloser Affe, der ackert und bizarre Grimassen schneidet. Man kann das ganze Drumherum bis zur Dekadenz kultivieren, der eigentliche Akt aber ist und bleibt banal und primitiv. Die Tabuisierung der Sexualität ist genauso krank wie die Hochstilisierung. Am besten, man macht sich einen Spaß daraus und genießt dabei einfach das körperliche Wohlbefinden – in etwa so wie den erlösenden Schiss nach einer stundenlangen Toilettensuche."
Schmidt hörte nichts mehr von ihr und versuchte bei anderen Profilen sein Glück. Mit vier Profilen kam er in Kontakt und man schrieb sich, was man sich in solchen Börsen eben schreibt: höfliche Nettigkeiten, biografische Details, die einem im guten Licht erscheinen lassen, langweiliges Geschwätz. Es war keine Frau dabei, für die er Interesse entwickelte. Nach zwei Wochen kam dann doch noch eine Nachricht von „SuperMaus72“. Sie schrieb, dass sie seine letzte Äußerung "voll ätzend" fand und deswegen „auf gar keinen Fall mehr Kontakt mehr mit ihm haben will“.
Schmidt bekam einen Lachanfall und löschte sein Profil. Kostenpflichtige Singlebörsen seien angeblich vielversprechender und effektiver, aber an seinem eigentlichen Problem änderte es nichts. Schmidt war ein Sonderling, der sein Alleinsein schon zu lange lebte. Und auch wenn er es sich so sehr wünschte: Er konnte sich ein Leben mit einer Frau kaum noch vorstellen. Wie sollte das funktionieren? Was hatte er einer Frau zu bieten?
7

Herr Bloch hatte starke Blähungen und er befände sich jetzt in einem Alter, wo es seinem Körper nicht mehr recht gelingen wollte, diese zurückzuhalten, so entschuldigte er es zumindest gegenüber Frau Sauer. Vielleicht sah Herr Bloch in seinem Alter auch einfach keine Notwendigkeit mehr, seine Blähungen zurückzuhalten. Fünf Jahre noch, dann ging er in Rente. Er war ein freundlicher, unauffälliger Angestellter, der zuverlässig seine Arbeit machte, nicht mehr und nicht weniger. Er war von etwas dicklicher Figur und trug graue oder dunkelblaue Anzüge. Seine Blähungen, das war das einzige, was ihn auszeichnete.
Frau Sauer teilte sich das Büro mit ihm und beschwerte sich: "Er sagt zwar Entschuldigung, meint es aber nicht, er genießt es richtig, das sehe ich ihm an, eine Zumutung ist das, eine Zumutung!"
Frau Sauer war eine kleine, stämmige Person mit einem energischen Gang. Sie war grell geschminkt und übertrieb es auch mit ihrem Parfüm und ihrem Haarspray. Nach eigener Aussage legte sie höchsten Wert auf Körperhygiene. Sie war Mitte dreißig und wollte gern Karriere machen. Deswegen besuchte sie viele Fortbildungen, die meisten sogar auf eigene Kosten. Sie war aber zu dumm, deswegen brachten die Fortbildungen ihr nichts.
Vor einem Jahr hatte sie sich intern auf eine höher dotierte Stelle beworben. Schon lange im Vorfeld hatte sie sich intensiv darauf vorbereitet, hatte Abendkurse besucht und am Wochenende Fachliteratur gewälzt. Sie bekam die Stelle. Aber nach nur einem Monat stand fest, dass sie den Aufgaben intellektuell nicht gewachsen war. Sie wurde auf ihre alte Stelle zurückversetzt und musste wieder in das Büro mit Herrn Bloch ziehen.
Herr Bloch liebte Schweinefleisch, und zwar in allen Variationen: Schnitzel, Braten, Wurst, Frikadelle aber am liebsten als Hackepeter mit viel Zwiebeln, sagte er Schmidt mal, als er mit Freude feststellte, dass es in der Kantine Hackepeterbrötchen mit Zwiebeln zum halben Preis gab. Das war bisher das einzige Mal, dass Herr Bloch mit ihm gesprochen hatte. Er war ihm in seiner bodenständigen Direktheit irgendwie sympathisch.
Noch am selben Tag waren beide gleichzeitig auf Toilette. Schmidt saß zwei Kabinen entfernt und hörte, wie Herr Bloch unter lautem Stöhnen abdrückte. Sein Schiss wurde von einem nicht enden wollenden saftigen Geknatter begleitet, wie Schmidt es in dieser Lautstärke noch nie in meinem Leben zuvor gehört hatte. Schmidt  schloss die Augen und stellte sich Frau Sauer vor.
Jetzt war Herr Bloch seit zwei Wochen krankgeschrieben. Seine Frau, die ebenfalls hier gearbeitet hatte - die beiden hatten sich hier bei der Arbeit kennengelernt - , hatte Selbstmord verübt.
Die ganze Abteilung wurde in den Besprechungsraum bestellt und Frau Schultz-Kramer verkündete in knappen Worten die tragische Neuigkeit mit gepresster Stimme und dramatischer Miene. Über das, was alle am meisten interessierte, also das Wie und Warum, verlor sie kein Wort. Frau Knapp fasste sich ein Herz und rief Herrn Bloch an. Unter dem Vorwand ihm zu kondolieren, fragte sie ihn aus. So erfuhren sie, dass bei Frau Bloch etwa vor einem Jahr ein inoperabler Hirntumor diagnostiziert worden war. Sie hatte außer ihrem Mann niemanden davon erzählt, weil sie meinte, ihr Schicksal nur ertragen zu können, wenn für sie alles normal weiter läuft. Ein Leben als Hausfrau mit einer Halbtagsstelle als Sekretärin war für sie die einzig vorstellbare Option, ihre Erfüllung.
Und so machte Frau Bloch einfach weiter in ihrer kleinbürgerlichen Puppenstube mit Garten und Kaffee und Kuchen und Nachbarschaftsplausch. Als sich die Ausfallerscheinungen häuften, hielt sie es dann doch nicht mehr aus. Sie hatte alle ihr zur Verfügung stehenden Schmerz- und Schlaftabletten geschluckt und dazu Eierlikör getrunken. Eierlikör war der einzige Alkohol, den Frau Bloch leiden mochte. Und um sicher zu gehen, hatte sie sich dann noch die Pulsadern an den Handgelenken aufgeschnitten. Als Herr Bloch sie abends im Badezimmer fand, war sie bereits tot. Am nächsten Tag hatte er gleich bei der Arbeit angerufen und Bescheid gegeben.
Die Blochs waren die nächsten Tagen das dominierende Gesprächsthema.
Für Herrn Bloch wird es jetzt sicher auch nicht leicht. In seinem Alter nochmal jemanden zu finden, das ist schon ein echtes Problem. Er ist nun mal kein George Clooney, sondern dicklich und kahlköpfig und auch nicht sonderlich wohlhabend. Die ganze Hausarbeit, die jetzt auf ihn zukommt: Kochen, Putzen, Wäsche, Bügeln und und und. Allein die Sauerei im Badezimmer, die ihm seine Frau durch das Öffnen der Pulsadern hinterlassen hat. Frau Sauer sagte, dass sie aus eigener Erfahrung weiß, wie äußerst hartnäckig Blutflecken sind. Kommt bei einem Selbstmord eigentlich ein Tatortreiniger? Wollen wir es mal für Herr Bloch hoffen. Kinder haben sie keine. Frau Engelbrecht meinte, für ihn wäre es vielleicht das beste, wenn er sich eine Haushaltshilfe sucht, eine Osteuropäerin oder Asiatin und vielleicht wird dann ja auch sogar mehr daraus. Die Nachbarn hätten dafür angesichts seiner Situation sicher Verständnis. Aber das müsse er letztlich selber wissen. Frau Blochs Lebensversicherung ist ja nach ihrer Aktion sicher auch futsch.
Schmidt wunderte sich, dass Frau Krause noch nicht mit ihrer Spendenschachtel für einen Blumenkranz, oder was da so üblich ist, aufgetaucht war.
In letzter Zeit wurde das auch immer mehr mit der Geldsammelei, da waren sich eigentlich alle einig. Jetzt hatten sie sogar schon angefangen, für runde Geburtstage zu sammeln und wenn man einmal damit anfängt, kommt man nicht mehr raus aus der Nummer. Gruppenzwang. Und Frau Krause machte das ja auch ganz geschickt: geht zuerst zu den Vorgesetzten, die sich natürlich nicht lumpen lassen und mindestens einen Schein in die Schachtel werfen und die anderen wollen dagegen natürlich nicht schlecht aussehen und passen sich an. Frau Krause schrieb sogar jedes Mal Name und Höhe der Spende in ihre Liste, die sie für alle sichtbar mit in die Schachtel packte. Und irgendwas war immer: Verabschiedung, Dienstjubiläum, Geburt, Hochzeit, Geburtstage und jetzt auch noch so was.
Am nächsten Tag kam Fr. Krause mit ihrer Spendenschachtel in sein Büro. Schmidt sah, dass schon einige 5 und 10 Euro-Scheine in der Schachtel lagen. Er schaute in das Geldscheinfach seines Portemonnaies und verzog seinen Mund, um Frau Krause zu verstehen zu geben, dass es leider leer war (was nicht stimmte, sie aber nicht sehen konnte) und gab ihr dann ein 2 Euro-Stück. Sie schrieb seinen Namen und eine 2 in ihre Liste. Erleichtert sah Schmidt, dass auch andere Kollegen 2 Euro gespendet hatten. Einmal sah er sogar eine 1, konnte aber auf die Schnelle den Namen nicht erkennen.
Nach dem Mittagessen musste Schmidt ins Vorzimmer von Frau Schultz-Kramer, da es eine Ungereimtheit mit seinem Urlaubsantrag bezüglich seines Resturlaubs zu klären gab. Im Büro war gerade niemand und auf dem Schreibtisch von Frau Krause, der Sekretärin von Frau Schultz-Kramer, lag die Spendenschachtel. Schmidt wartete einen Moment. Es war völlig ruhig. Auch aus dem Büro von Frau Schultz-Kramer war nichts zu hören. Wahrscheinlich waren die beiden noch beim Mittagessen.
Schmidt öffnete die Spendenschachtel. Jemand hatte sogar einen 50 Euro-Schein gegeben. Oder aber jemand hatte nur so einen großen Schein und hatte sich dann den Restbetrag herausgeben lassen. Ja, das war wahrscheinlicher. Schmidt hörte Schritte. Er nahm sich einen 10 Euro-Schein, steckte ihn in die Sakkotasche, klappte die Schachtel zu und trat zwei Schritte vom Schreibtisch zurück. Die Schritte ließen sich niemandem zuordnen. Die meisten seiner unmittelbaren Kollegen erkannte Schmidt leicht an ihrem Schritt. Das war immer dann ausgesprochen hilfreich, wenn sich die energisch stampfenden Schritte von Frau Schultz-Kramer seinem Büro näherten. Dann konnte er noch schnell zumindest das Fenster der Fachanwendung am Monitor öffnen.
Die Schritte entfernten sich wieder. Schmidt verließ das Büro.
Seine freudige Erregung hielt noch Stunden an. Das Geld war ihm egal, er brauchte es nicht. Er fragte sich, ob Frau Krause die fehlenden 10 Euro kommunizieren wird oder die Angelegenheit für sich behält. Kontrolliert überhaupt jemand ihre Spendeneinnahmen? Veruntreut sie vielleicht selber auch Geld und wird deswegen kein Wort über die 10 Euro verlieren? Er war gespannt, was passiert. Die Erregung tat ihm gut.
Um den 10 Euro-Schein wieder loszuwerden, ging er nach Feierabend auf einen Espresso in ein Café. Die Bedienung war sehr aufmerksam und auf authentische Art herzlich. Sie war jung, etwa Anfang 20. Eine Studentin, die sich etwas nebenbei verdient, war sich Schmidt sicher. Ihre kleinen spitzen Brüste drückten sich durch ihre Bluse. Schmidt musste aufpassen, dass er sie nicht allzu offensichtlich anstarrte.
Der Espresso kostete 1,70 Euro. Schmidt gab ihr den 10 Euro-Schein und sagte „stimmt so“. Augenblicklich schämte er sich. Die Bedienung betrachtete ihn misstrauisch. Natürlich musste sie es für einen plumpen Annäherungsversuch oder einen Ausdruck von Großspurigkeit halten. In jedem Fall eine Widerwärtigkeit. Hastig verließ er das Café mit eingezogenem Kopf. Ihm war klar, dass er das Café nie wieder betreten konnte.
8

Im Haus schräg gegenüber war eine neue Mieterin eingezogen. Sie war Balkonraucherin und Schmidt konnte sie von seinem Küchenfenster aus beim Rauchen beobachten. Sie sah gut aus, soweit er das aus der Entfernung erkennen konnte. Groß, schlank, blond, mit einem hübschen, mädchenhaften Gesicht. Ihm gefiel die Art, wie sie rauchte. Sie ließ sich Zeit und lehnte dabei entspannt mit überkreuzten Beinen neben der Balkontür. Sie schaute verträumt in den Himmel und genoss die Zigarette. Ab und an kam ein Kleinkind dazu, aber davon ließ sie sich nicht beirren, sie rauchte entspannt weiter.
Ein Mann wohnte nicht bei ihr.
Schmidt fragte sich, ob sie als alleinerziehende Mutter leicht zu erobern sei. Bisweilen malte er sich aus, wie er so zu einer Familie käme, ohne ein eigenes Kind zeugen zu müssen. Das wäre von Vorteil, man könnte sich dann wieder leicht aus der Verantwortung stehlen. Einmal war er kurz davor, ihr vom Fenster aus zuzuwinken. Aber er beließ es dabei, sie nur zu beobachten.
Heute, beim Wochenendeinkauf begegnete er ihr im Discounter. Aus der Nähe sah sie bei weitem nicht mehr so gut aus. Sie war erheblich älter, als Schmidt gedacht hatte. Ihre blondierten Haare waren am Ansatz  ergraut, die Augen matt. Sie wirkte ungepflegt und mürrisch. Aschfahle, großporige Haut, kein Make-Up. Die Fingerkuppen waren gelb und die Nägel abgekaut. Ihr Kind, ein kleiner Junge, wie Schmidt jetzt erkennen konnte, quengelte wegen irgendetwas und fing an zu heulen. Schon nach kurzer Zeit zeigte sie Nerven und wurde ihrerseits laut. "Halt endlich deine Scheißfresse", sagte sie zu ihm. Schmidt war entsetzt und angewidert.
Wieder zuhause googelte Schmidt nach künstlichen Vaginas. Inzwischen wurden die schon bei Amazon angeboten. Das Modell "Fleshlight Pink Lady" in der Rubrik "Drogerie und Körperpflege" schaute er sich genauer an.
"Diese Lady verspricht viele Stunden Spaß und hat nie Migräne", versprach der Hersteller und "Fleshlight will immer, wenn Sie wollen. Seine innovative Reel Feel Superskin™ Innenstruktur ist ultraweich, elastisch und unglaublich gefühlsecht. Vor allem das Fleshlight Original Pink Lady ist ein ideales Einsteigermodell, denn der glatte, große Kanal sorgt dafür, dass Sie nicht zu schnell kommen."
Bekennende Käufer hatten sogar "Rezensionen" abgegeben. "Ocir" schrieb zum Beispiel: "An eine richtige Vagina kommt es zwar nicht ran, aber es ist schon sehr ähnlich. Warm, feucht und eng. :)"
"Boogeyman" schrieb: "Es fühlt sich lange nicht so an, wie das menschliche Original. Aber wenn die Frau o. der Mann mal auf Geschäftsreise ist, ganz ok."
„Anton Ginther“ schrieb: "Stress mit der Freundin? Keine Ausweichmuschi in Sicht - macht nicht's, es gibt ja die Muschi To Go von Fleshlight. Leicht zu reinigen und allzeit bereit, ohne Zickenkrieg, was will man(n) mehr??"
"Jannie" behauptete sogar: "Habe mir das Fleshlight zusammen mit meiner Frau ausgesucht. Wir haben es bestellt, da ich öfter Lust habe als sie, und immer hat man(n) nicht Lust auf "Handarbeit"."
Für diese Rezensenten war das "Fleshlight Pink Lady" nur eine Erweiterung ihres Sexlebens oder ein kurzfristiger Ersatz für das "Echte". Keiner gab zu, dass er nicht beurteilen kann, ob es sich wie eine echte Vagina anfühlt, da er das letzte Mal bei seiner Geburt Kontakt mit einer hatte. Keiner gab zu, ein verzweifelter Wichser zu sein, der 32,99 Euro für ein Stück Silikon in einer Plastikummantelung gezahlt hat und sich jetzt fragt, wo genau eigentlich seine Würde auf der Strecke geblieben ist.
Schmidt befand sich in einer merkwürdigen Verfassung – eine Mischung aus Wut und einer manischen Lust an diesem völlig absurd lächerlichen Leben - , so dass er kurz davor war, den Bestellbutton klicken. Dann hatte er aber noch rechtzeitig das Einsehen, dass sich die Anschaffung nicht lohnt. Der Reiz von diesen Dingern liegt ausschließlich darin, dass es einem das Herz vor Erregung höher schlagen lässt, wenn man das erste mal eindringt. Weiß man dann, wie es sich anfühlt, ist der Reiz auch schon verflogen und das Ding landet schnell in einer Schublade wie so viele andere Haushaltsgeräte auch. Zum Beispiel diese mechanischen Schneidegeräte, die das Schneiden von Gemüse zwar erleichtern, aber aufwändig zu reinigen sind. Und wenn Schmidt sich vorstellte, wie er über dem Waschbecken gebeugt die "Pink Lady" nach Gebrauch auswusch, verging ihm auch der letzte Rest erotischer Neugier.
9

Auch eine Woche nachdem Schmidt die 10 Euro aus der Spendenkasse genommen hatte, wurde im Betrieb nicht darüber gesprochen. Frau Krause hatte es anscheinend für sich behalten oder es war ihr gar nicht aufgefallen. Was auch immer, es interessierte Schmidt ohnehin nicht mehr. Die Erregung war längst verflogen. Viel mehr beschäftigte ihn immer noch das peinliche Erlebnis mit seinem unangemessenen Trinkgeld.
Gestern war er nach Feierabend an dem Café vorbeigelaufen. Durch die Fensterfront konnte er sehen, dass die Studentin wieder arbeitete. Sie stellte gerade mit ihrem Lächeln einen Teller mit Kuchen auf den Tisch einer weißhaarigen Dame, die dankbar nickte und auch lächelte. Schmidt wandte sich ab und beschleunigte seinen Schritt.
Auf dem Nachhauseweg hielt er an einer Tankstelle und kaufte sich einen Sechserträger Bier. Es war eine billige Marke und am nächsten Tag erschien er mit einem mittelschweren Kater bei der Arbeit.
Die Arbeit an sich war dann nicht das Problem, sie stellte schon lange keine intellektuelle Herausforderung mehr dar, aber die Kollegen und Kunden: ihre Geräusche, ihr Anblick, ihr Reden – das zu ertragen mit seinem Kater war eine Tortur.
Dann hatte er endlich Feierabend. Er fuhr nach Hause und legte sich direkt ins Bett, dankbar für sein Alleinsein.
Die Vorstellung, dieser Arbeit noch mehr als 20 Jahre nachgehen zu müssen, war monströs und unerträglich. Demütigende Kundenkontakte, nervtötende Kollegen, unsinnige Entscheidungen der Geschäftsleitung, die sich ausnahmslos aus geltungsbedürftigen Narzissten zusammensetzt – auf Dauer verwandelt das jede Seele in eine Mondlandschaft, selbst dann, wenn man die größte Frohnatur auf Gottes Erden ist.
Und die Entwicklung der letzten Jahre zeigte, dass sie die Schrauben immer fester drehen, um aus den Angestellten mehr und mehr herauszupressen. Wenn man bis zur Rente durchhält, ist man ein psychisches Wrack. Mit der wiedergewonnen Freiheit weiß man nichts mehr anzufangen und das Lachen ist versiegt. Festgefahren, mutlos und ohne finanziellen Spielraum realisiert man, dass man um sein Leben gebracht wurde.
Herr Kunze schilderte Schmidt vor einigen Wochen während der Kaffeepause seine Pläne für den Ruhestand. Er freue sich schon „wie ein Schneekönig“ darauf, endlich die Zeit zu haben, sich ganz seinen Hobbys und Interessen zu widmen. Er plane, in das Haus seiner Eltern, das er in nächster Zeit wohl erben wird, zu ziehen und sich dort ein spezielles Zimmer nur für seine Schallplatten- und Beatles-Merchandise-Sammlung herzurichten. Die Sammlung werde bis dahin auch sicherlich noch so einiges an Umfang zunehmen, versprach er Schmidt mit Enthusiasmus in den Augen. In seinem Kopf sei bereits alles haarklein ausgearbeitet. Außerdem hoffe er, bis dahin endlich die „Frau fürs Restleben“ gefunden zu haben und mit ihr dann „spannende Entdeckungsreisen“ in fernöstliche Länder unternehmen zu können.
Schmidt sagte nichts dazu. Wer sich mit Mitte vierzig noch Illusionen über ein schönes und spannendes Leben macht, dem ist mit Vernunft und Rationalität nicht beizukommen. Und Herr Kunze ist Ende fünfzig.
10

Schmidt sollte sein Büro nicht lange für sich allein behalten. Schon zwei Wochen nach dem denkwürdigen und noch lange Zeit für Gesprächsstoff sorgenden Abschied von Herrn Schwarz bekam er eine neue Kollegin zugeteilt.
Herr Schwarz hatte an dem Tag ein signalrotes Sakko bei der Arbeit getragen und als ob das noch nicht verrückt genug gewesen wäre, war er in die Büros gestürmt und hatte gebrüllt: „Mein Schamhaar hat eine Hitlerbartfrisur, denn mein Pimmel ist ein Faschist, ein Faschist, ein Faschist! Heil, Pimmel!“ Frau Schultz-Kramer hatte den sozialpsychatrischen Dienst gerufen, der Herrn Schwarz dann mitgenommen hatte.
Sheela war unkompliziert und äußerst attraktiv. Ihre Mutter war Inderin, ihr Vater Deutscher mit französischen Vorfahren. Schmidt hatte schon häufiger festgestellt, dass sehr schöne Frauen, die über ein gewisses Maß an Intelligenz verfügen, sehr oft sehr freundlich, offen und unkompliziert sind oder sich zumindest so verhalten. Wahrscheinlich, weil sie ansonsten schnell als arrogant gelten und gemieden werden. Und soziale Ausgrenzung ist für eine Frau (neben einer missglückten Frisur) mit Abstand das schlimmste, was ihr passieren kann.
Schmidt wurde beauftragt, sich um ihre Einarbeitung zu kümmern.  Sie hatte, genau wie Schmidt damals, ihr Studium abgebrochen und wurde als Quereinsteigerin zur Probe eingestellt. In Germanistik und Philosophie war sie vier Semester lang immatrikuliert gewesen. Es waren in erster Hinsicht die schlechten Berufsaussichten – bestenfalls hatte man mit so einem akademischen Abschluss eine Chance als Redakteur in einem prekären Arbeitsverhältnis -, die sie dazu bewogen hatte, das Studium abzubrechen.
Sheela lernte schnell. Schmidt hatte noch nie einen Menschen mit einer derartigen Auffassungsgabe erlebt. Kaum hatte er ihr was erklärt, stellte sie Fragen, die nicht nur erkennen ließen, dass sie es verstanden hatte, sondern auch noch weitere Erklärungen vorwegnahmen. Als Schmidt sie in die Module Kalkulation und Statistik einarbeitete, demonstrierte sie ihm, wie man seine Statistikabfragen für eine effektivere Auswertung ganz einfach optimieren könne.
Nach einem Monat arbeitete Sheela völlig selbständig und brauchte Schmidt keine Fragen mehr zu stellen. Zudem lieferte sie bereits jetzt gute Ergebnisse. Schmidt wurde zum ersten Mal bewusst, wie leicht er hier austauschbar wäre. Aber da er seine Arbeit verachtete, bedeutete ihm das nichts. Es überraschte ihn selbst, wie egal es ihm war.
Sheela hatte es neben der Aneignung der fachlichen Kompetenz auch in der kurzen Zeit geschafft, sich im Kollegium beliebt zu machen. Vor allem die männlichen Belegschaft hielt große Stücke auf sie. Schmidt schwärmte auch für sie, war sich aber völlig darüber im Klaren, dass er niemals mehr als ihr Arbeitskollege sein wird. Aber sie war da, saß ihm gegenüber und er genoss ihre Schönheit und Freundlichkeit. Es bedeutete ihm viel, ihre Anwesenheit half ihm über den Arbeitstag.
11

Obwohl Schmidt einen großen Bogen um den Stand gemacht hatte, sah er aus dem Augenwinkel, wie der Spendeneintreiber geradewegs auf ihn zu stürmte. Schmidt zog den Kopf ein und macht eine abwehrende Handbewegung, als der junge Mann ihn mit dieser manischen Aufdringlichkeit ansprach. „Nein, nein, keine Zeit“, sagte Schmidt und beschleunigte seinen Schritt. „Einen wunderschönen Tag wünsch ich dem Herren noch“, rief der Spendeneintreiber ihm in übertriebener Freundlichkeit hinterher.
Schmidt mied Fußgängerzonen schon länger und gerade wurde ihm wieder bewusst, warum. Er wollte sich neue Schuhe kaufen. Obwohl ihm klar war, dass er niemals so etwas wie eine Beziehung mit Sheela eingehen wird, so wollte er ihr doch gefallen. Er legte in letzter Zeit größeren Wert auf sein Äußeres, kleidete sich neu ein, war beim Friseur, ernährte sich bewusster, betrieb sogar Morgengymnastik. Und es tat ihm gut, er fühlte sich wohl und gewann an Ausstrahlung. Er hatte das Gefühl, Frauen warfen ihm Blicke zu.
Aufgrund seiner Aversion gegenüber Fußgängerzonen kaufte Schmidt fast nur noch im Internet ein, aber bei der Anschaffung von neuen Schuhen wollte er die Ware doch vorher anprobieren und sie erst danach im Internet bestellen.
Schmidt nahm ein Paar hellbrauner Halfbrogue der Größe 45 aus dem Regal und probierte sie an. Die Schuhe ließen sich gut sowohl bei der Arbeit als auch privat tragen und Frauen mögen elegante Schuhe an Männern.
„Die Schuhe stehen ihnen gut. Eine gute Wahl, wirklich sehr schön.“
Schmidt mochte es nicht, von Verkäufern behelligt zu werden. Allenfalls fragte er sie, wo sich eine bestimmte Ware befand, ansonsten wollte er nichts mit ihnen zu tun haben, schon gar nicht bei solch einem lächerlichen Kaufakt von einem Paar Schuhen beraten werden.
Gereizt sah er auf. Es stand keine Verkäuferin vor ihm, sondern Frau Schröder. Eine Arbeitskollegin. Aus der Buchhaltung.
„Ach, hallo Frau Schröder“, sagt er.
„Beate“, sagte sie und streckte ihm mit einem breiten Lächeln ihre Hand entgegen.
12

Sie saß auf ihm und zog ihr T-Shirt hoch. Zwischen ihren Brüsten verlief eine stark ausgeprägte, rot leuchtende Narbe.
„Als Kind hatte ich eine Herz-OP“, sagte sie.
Schmidt berührte die Erhebung mit seinem Zeigefinger. „Darf ich?“
Sie nickte. Er fuhr mit dem Finger die Narbe auf und ab.
Es war allein die Narbe, die ihn sexuell stimulierte. Beates 41jähriger Körper reizte ihn nicht.
Sie blieb auf ihm sitzen, bewegte sich langsam, fast wie in Zeitlupe, aber in extremer körperlicher Anspannung, so als würde sie sich  wütend gegen eine verschlossene Tür stemmen. Schmidt spürte die enorme Kraft ihrer Hände und Schenkel und war überrascht. Sie kam schnell, viel zu schnell. Sie beugte sich zu ihm runter, erzitterte und mit einem unterdrückten Stöhnen biss sie ihm in die linke Schulter.
Schmidt blieb unbefriedigt, aber ihr Orgasmus erfüllte ihn mit Stolz und natürlich seine noch unübersehbar bestehende Erektion, als Beate sich von ihm erhob und sich neben ihn legte.
Sie hatte ihn bei ihrer Begegnung in dem Schuhladen gefragt, ob er vielleicht Zeit und Lust auf einen Kaffee hätte. Da sie sich bereits flüchtig kannten, fiel ihnen die Konversation leicht. Der Tratsch über  ihre Arbeitskollegen bereitete ihnen dabei die größte Freude und darüber hinaus schnell ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Schmidt war sich über seine Gefühle gegenüber Beate im Unklaren und stellte sie gar nicht erst in Frage. Er ließ sich einfach auf die Beziehung ein. Er brauchte gar nichts tun, alle Initiative ging von ihr aus. Es war bequem für ihn. Vielleicht war das schon der ganze Grund: Es war bequem.
13

Dass Frau Schröder und Schmidt nun ein Paar waren, sorgte in der Firma für kein großes Aufsehen. Rein äußerlich passten sie schon mal gut zusammen und dass sich innerhalb der Firma Paare fanden, war nichts ungewöhnliches. Ab einem gewissen Alter ist der Arbeitsplatz nun mal der erfolgversprechendste Kontakthof.
Schmidt gefiel es, dass seine Beziehung zu Beate kein Gesprächsthema war. Dem Kollegium war es offenbar weitestgehend egal. Außerdem gefiel es ihm, dass ihn diese Liebschaft in den Augen der anderen in vielerlei Hinsicht normal erschienen ließ. Unauffälligkeit war ihm wichtig. Die Leute sollten ihn in Ruhe lassen.
Seit einiger Zeit musste Schmidt zwei Stunden täglich an dem neuen Info-Point arbeiten. Nachdem man jahrelang, um Personalkosten zu reduzieren, die Kunden erfolgreich an die Selbstbedienungsterminals gedrängt hatte, meinte die Geschäftsführung plötzlich, dass sich das Unternehmen wieder „menschlicher“ präsentieren solle. Man erhoffe sich durch diese „überraschend ungewöhnliche Maßnahme“, die Kundenbindung zu stärken und auch neue Kunden gewinnen zu können. Also wurde im Eingangsbereich ein von innen beleuchtetes Stehpult mit der Aufschrift „Info-Point“ montiert. Darauf standen ein Thin Client mit Zugang zur Fachanwendung und den Kundendaten und ein Schild mit der Aufschrift „Ich bin für Sie da.“ Und dahinter ein echter Mensch, der ab und an Schmidt sein musste.
Zunächst nahmen die Kunden diesen Service nur zögerlich an. Sie waren misstrauisch und vermuteten wahrscheinlich, dass sie anstelle von Hilfestellungen Beratungsgespräche erhalten, die auf neue Vertragsabschlüsse abzielen. Als die Kunden dann aber mitbekamen, dass dem nicht so ist, nahmen sie den Dienst zusehends in Anspruch. Allerdings nicht so, wie die Geschäftsführung sich das vorgestellt hatte. Der „Info-Point“ wurde als Beschwerdestelle genutzt und der zweistündige Infodienst in Folge dessen für die Angestellten zur Tortur.
Die Kunden hielten ihnen emotional aufgeladene Vorträge über ihre Probleme und beschuldigten sie der Schlamperei oder des Betrugs. Zumeist handelte es sich um längst abgeschlossene Fälle, die die Rechtsabteilung erfolgreich abgeblockt hatte. Aber die Kunden ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, noch mal ordentlich Dampf abzulassen und sich in Rage zu reden. Viele bestanden darauf, ihren Fall nochmals zu prüfen und in ihrem Sinne zu lösen und zwar sofort. Leute, die nicht in der Lage waren, schlichte Vereinbarungen und klare Fristen einzuhalten, plusterten sich vor ihnen auf.
Letzten Freitag hatte Schmidt wieder so einen Fall vor sich. Der Herr hielt ihm einen nicht enden wollenden Vortrag. Allein wegen der vielen Redundanzen hörte Schmidt schon gar nicht mehr hin. Das Problem des Kunden war wieder einmal ein eindeutiger Verstoß gegen die Geschäftsbedingungen seinerseits. Schmidts Infoschicht war fast vorbei und er schaute auf seine Armbanduhr, um zu sehen, wann endlich seine Ablösung kam. Als der Kunde das registrierte, hielt er inne. Er beugte sich zu Schmidt vor und begann vor Erregung zu zittern. Dann brüllt er ihn an. Er wolle unverzüglich den “Chef hier“ sprechen. Schmidt sagte: „Gut, ich hole ihn“ und ging weg.
Schmidt ging in sein Büro und entsperrte seinen PC. Er ging ins Internet und schaute nach privaten Mails. Wieder mal nur Werbespams, die er ungelesen löschte. Dann schaute er bei Google-News, was in der Welt so los war. Außer einigen Meldungen über abstoßende Gewalttaten fand nichts so richtig sein Interesse. Er merkte, dass er Appetit auf ein Brötchen hatte. Er sperrte den PC und zog sich die Jacke über. Durch den Hintereingang ging er auf die Straße. Um die Ecke gab es eine Bäckerei, die Brötchen anbot, die man nach Wunsch belegen lassen konnte. Der Salat war immer frisch und knackig. Alles wurde appetitlich präsentiert. Schmidt entschied sich für ein Ei-Tomaten-Brötchen ohne Gurke, aber mit Salat und Majo.
Die Bäckereiverkäuferin kannte er noch nicht, sie war jung und hübsch und sie lächelte ihn an. Das Personal wechselte hier auffallend oft. Vor allem die jungen und hübschen waren nie lange hier. Die lächelten sich schnell einen solventen Versorger an, damit sie diesen Job nicht lange ausüben mussten, war Schmidts Theorie.
Während sie sein Brötchen belegte, schaute er ihr in den Ausschnitt. Sie hatte keine großen Brüste, aber sie waren straff und samtig. Sie reichte ihm das eingepackte Brötchen über die Theke. Schmidt bezahlte und ging zurück, diesmal, noch ganz in Gedanken bei der Bäckereiverkäuferin, zum Vordereingang und da sah er den Kunden von vorhin, wie er von zwei Security-Männern auf die Straße geschoben wurde. Er erkannte Schmidt und schrie „DER DA! DER DA! DA! DER!“ Worauf einer der Security-Männer ihm nachdrücklich zu verstehen gab, dass es für ihn besser sei, wenn er jetzt endlich Ruhe gebe. Schmidt schob sich an ihnen vorbei, ging zum Info-Point und fragte Herrn Georg, der jetzt dort seinen Dienst verrichtete, was denn hier los sei. Der erzählte ihm, dass, als er seine Infoschicht begann, der Kunde schon am Info-Point stand. Er fragte ohne Einleitung und sichtlich erregt, ob „er hier der Chef sei“. Als er das wahrheitsgetreu verneinte und ihn fragte, was er denn für ihn tun könne, wurde der Kunde sofort ausfallend, trat gegen das Pult und brüllte herum, wobei er sich einer völlig unangemessen, vulgären Gossensprache bediente, so dass er sich genötigt sah, die Security zu rufen.
Schmidt sagte: „Die Gestörten haben heute mal wieder Freigang“ und Herr Georg stimmte ihm zu. Der Spruch „Die Gestörten haben heute mal wieder Freigang“ erfreute sich bei den Angestellten, die im Infodienst eingesetzt wurden, in letzter Zeit großer Beliebtheit.
Der Vorfall hatte ein Nachspiel. Als die Geschäftsführung von dem Security-Einsatz erfuhr, wurden alle Infodienstler zu ihren Erfahrungen im Infodienst befragt. Da sie einhellig berichteten, dass der Info-Point von den Kunden fast ausschließlich als Beschwerdestelle genutzt werde, wurde geprüft, ob er wieder demontiert wird. Sich öffentlich beschwerende Kunden sind alles andere als werbewirksam. Und was die informellen Quellen jetzt so von sich gaben, sah es ganz so aus, dass die verhassten Infoschichten schon bald der Vergangenheit angehören werden.
Dank Schmidt.
Er fühlte sich schon ein bisschen als Held, erzählte es aber niemandem.
14

Sheela war weg. Sie hatte um einen Aufhebungsvertrag gebeten und ihren Resturlaub genommen. Von einen Tag auf den anderen war sie nicht mehr da. Obwohl ihr der Betrieb eine Festanstellung mit äußerst guten Konditionen in Aussicht gestellt hatte, beschloss sie, es doch nochmal mit einem Studium zu versuchen.
Die Frauen in der Abteilung regten sich auf.
„Andere wären froh, wenn sie hier arbeiten dürften.“
„Und dabei hat sie noch gar nichts anderes.“
„Angeblich will sie ja studieren … na ja.“
„Die hatte doch schon vorher erst studiert und hingeschmissen und hier schmeißt sie auch einfach so hin.“
„Die weiß nicht, was sie will.“
Worüber sie sich eigentlich aufregten, war Sheelas unausgesprochenes Statement, das sie mit ihrer Kündigung abgab: "Ich lehne das, womit ihr den Großteil eures Leben verbringt, ab und werde mit diesem Unfug keinesfalls mein Leben bestreiten."
Die Männer waren zurückhaltender und gaben keine gehässigen Kommentare ab. Sie vermissten sie. Ihr Anblick, ihr Lächeln, ihr Hintern, dieser prächtige sinnliche Hintern in den engen Businessröcken, ihr leicht breitbeiniger, fast schon provokanter Gang: das waren alles so Kleinigkeiten, die einen über den frustrierenden und langfristig kastrierenden Arbeitstag retten konnten.
Schmidt hatte gemischte Gefühle. Einerseits musste er jetzt keine Tantalusqualen mehr erdulden, andererseits vermisste er sie.
Er wusste, sie war hier unterfordert und hatte sich schon nach kurzer Zeit gelangweilt. Sie wird also wieder studieren. Sie wird dazu in eine für junge Leute attraktive Großstadt ziehen: Berlin, Hamburg oder Köln. Sie wird sich wieder für irgendwas Geisteswissenschaftliches einschreiben. In erster Linie wird sie aber ihre Jugend in vollen Zügen genießen. Sie wird feiern und ihren Kommilitonen und Dozenten feuchte Träume bescheren. Dann, mit spätestens Ende zwanzig, wird sie sich eine viel versprechende Partie aussuchen, einen gutaussehenden, freundlichen und zuverlässigen jungen Mann, ein Sprössling einer wohlhabenden Akademikerfamilie mit einer gesicherten Zukunft als Mediziner, Ingenieur oder Betriebswirt. Sie wird ihn heiraten und muss sich um ihre finanzielle Situation nie wieder Sorgen machen. Selbst wenn die Ehe zerbricht: Nie wieder muss sie einer geist- und nervtötenden und Arbeit nachgehen. Tja, als durchschnittlicher Angestellter steht man da nur neiderfüllt außen vor.
Schmidt hatte Hochachtung vor Sheela. Sie war der Beweis, dass es tatsächlich noch Frauen gibt, für die Intelligenz und Sinnlichkeit keine Widersprüche darstellen und die kein Problem mit ihrer Sexualität haben.
Die Kolleginnen waren insgeheim froh über ihre Kündigung. Sie war eine Konkurrentin, der sie nicht das Wasser reichen konnten, in keinerlei Beziehung. Und sie erinnerte sie an etwas, wovor sie sich in ihrer Verkorkstheit fürchteten: Wollust.
15

Beates Eltern wohnten in einem kleinen Dorf in einem kleinen zweistöckigen Fachwerkhaus mit kleinen Räumen und niedrigen Decken direkt an der Dorfdurchgangsstraße. Sie hatten es mit nachgemachten Bauernmöbeln, allerhand Nippes und einigen Stücken von Ikea vollgestopft. In allen Räumen roch es nach kaltem Stein und fauligen Obst.
Als Schmidt die enge knarzende Holztreppe hochstieg, weil Beate ihm unbedingt ihr altes Kinderzimmer, welches jetzt als Mutters Bügelzimmer diente, zeigen wollte, stieß er sich den Kopf an der Decke, was für eine allgemeine Erheiterung sorgte. „Tja, früher waren die Menschen nicht so groß“, sagte Beates Mutter.
Ihre Eltern waren sparsam. Der einzig beheizte Raum war die gute Stube, wo sie sich zum Kaffeetrinken niederließen. Beates Mutter, eine kleine, quirlige und freundliche Frau, die ganz aufgeregt war, weil sie ja nur noch so selten Besuch bekamen, hatte einen Marmorkuchen gebacken, der für Schmidts Geschmack viel zu trocken war. Der Vater, fett und kahlköpfig, saß die meiste Zeit wie fest gewachsen mit mürrisch entspannter Miene in seinem Sessel und leistete keinen Beitrag zur Bewirtung und Unterhaltung der Gäste. Die einzige Frage, die er Schmidt stellte, war, was für ein Auto er fuhr. Als Schmidt das mit Audi beantworten konnte, war er offensichtlich beeindruckt und zufrieden.
Schmidt war froh, dass sie nicht vorhatten, hier zu übernachten. Sofort nach dem Abendessen, es gab Graubrot mit Käse, Wurst und Eiersalat, wollten sie zurückfahren, so hatten sie es vorab mit den Eltern ausgemacht. Insgesamt war Schmidts Kopfstoß an der niedrigen Decke der emotionale Höhepunkt dieses Besuchs gewesen.
Als sie zurückfuhren, war Schmidt deprimiert. Während der zweistündigen Fahrt sprach er kein Wort und Beate spürte, dass sie besser auch den Mund hielt, obwohl sie sonst ein sehr redseliger Mensch war, vor allem wenn es darum ging, peinliche Situationen durch enthusiastisches Reden zu überdecken.
Ihre Frohnatur und ihre penetrante Schwärmerei für alltägliche Dinge war Schmidt schon ein paar Mal übel aufgestoßen.
"Guck doch mal, diese einmalige Holzmaserung von dem Tisch da!"
"Lies mal den Spruch hier auf der Glückwunschkarte! Echt lustig."
"Oh, wie hübsch der Balkon da dekoriert ist, guck doch mal, der Balkon da!"
Schmidt parkte vor ihrer Wohnung. Meistens hielten sie sich in Beates Wohnung auf. Beate fühlte sich in Schmidts Wohnung nicht wohl, sie sei ihr zu karg, zu unpersönlich, zu lieblos. Sie hatte ihm diverse Wohnaccessoires geschenkt: Vasen, Schalen, einmal ein Holzschild mit einem Spruch in Schönschrift: „Wer den Tag mit einem Lachen beginnt, hat ihn bereits gewonnen.“ Die Vasen und Schalen blieben leer und ungenutzt, das Schild hatte er nie aufgehangen.
Schmidt ließ den Motor laufen und gab ihr so zu verstehen, dass er nicht mit hoch kam. Nach einem kurzen Zögern stieg Beate schweigend aus. Sie weinte.
16

Schmidt war spät dran, deswegen hatte er keinen guten Platz mehr bekommen. Er musste an einem Tisch mit altgedienten Kolleginnen sitzen. Sie hatten den Unterhaltungswert von Zeuginnen Jehovas, die in der Fußgängerzone den Wachturm hochhalten. Anfangs brachte er sich noch ein mit ein paar Floskeln über das für diese Jahreszeit eindeutig zu milde Wetter („Wenn das die befürchtete Klimaerwärmung ist, dann habe ich nichts dagegen!“) und das verführerische Buffet („Eine Sekunde auf der Zunge, ein Leben lang auf den Hüften!“). Nach zwei Minuten hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Er holte sich ein Bier.
Die Getränke waren schon freigegeben. Mit dem Buffet mussten die Anwesenden dem Protokoll entsprechend warten, bis der offizielle Teil mit den Reden vorbei war. Alle warteten auf den Direktor, damit es endlich los- und vorbeigehen konnte, aber der ließ sich natürlich als viel beschäftigter Mann viel Zeit.
Am Nachbartisch saßen junge Kolleginnen vom Marketing. Einige der Frauen hatte Schmidt noch nie gesehen. Im Marketing gab es immer wieder in schneller Abfolge neue Gesichter. Meistens stylische distinguierte Frauen, frisch von der Uni, die aber nie lange blieben, weil sie sich doch was anderes vorgestellt hatten und hier ihr enormes kreatives Potential nicht voll entfalten konnten.
Die alten Frauen an Schmidts Tisch redeten in einem fort. Analysierte man ihr Geschwätz nach inhaltlicher Gewichtung, ließ das den Schluss zu, dass ab einem gewissen Alter das Leben nur noch aus Arztbesuchen und Essenszubereitungen besteht. Schmidt hielt sich an seinem Bier fest und beobachtete die jungen Frauen vom Nachbartisch. Er montierte ihre Gesichter in den Latinoporno, den er gestern Abend gesehen hatte. Vor allem die Cumshots spielte er mit ihnen der Reihe nach durch. Aber sein Kopfkino wurde wieder und wieder durch das penetrante Geschwätz der alten Frauen neben ihm unterbrochen, bis er schließlich völlig den Faden verlor. Und es kam noch schlimmer: Er sah die jungen Kolleginnen nicht mehr in den aufreizenden Latinaposen. Er sah ihre Prüderie. Es war so klar und offensichtlich. Er sah, wie sie abends müde und lustlos nach Hause kamen, unförmige Jogginganzüge überstreiften, sich aufs Sofa fläzten, zudeckten und furzten. Süßigkeiten mampfend switchten sie im Fernsehprogramm zwischen rührseligen Kitsch und infantilen Shows hin und her. Er hörte, wie sie nachts beim Schlafen mit den Zähnen knirschten und beobachtete, wie sie sich morgens unter der Dusche ohne eine Spur von Sinnlichkeit hektisch und mechanisch einseiften. Sie verwandelten sich unweigerlich in die alten Tanten an seinem Tisch.
Er holte sich noch ein Bier, diesmal ein 0,5er und trank es in großen Schlucken. Die alten Kolleginnen warfen ihm missbilligende Blicke zu. Er grinste in die Runde wie ein bierseliger Volltrottel. Was glotzt ihr so? Besonders du da, du runzliges, muffiges Überbleibsel von etwas, was vor langer Zeit vielleicht mal so etwas wie eine Frau gewesen war! Ich steh noch voll im Saft und für euch ist die Show ein für alle Mal gelaufen. Tja, Ladies, so sieht’s nun mal aus.
Er trank aus und holte sich noch eins.
Endlich kam der Direktor. Er stolzierte schnurstracks zum Rednerpult, holte seine Zettel aus der Sakkotasche und setzte seine Lesebrille auf. Offensichtlich wollte er den Stuss hier so schnell wie möglich hinter sich bringen. Als er sich in das Mikro räusperte, wurde es augenblicklich mucksmäuschenstill im Saal.
„Im Jahre 1966 – also zu einem Zeitpunkt, als viele der hier Anwesenden noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt haben, wahrscheinlich noch nicht einmal geplant waren (ha, ha, ha) – begann Fr. Müller – oder wie es damals noch politisch völlig korrekt hieß: FRÄULEIN Müller (ha, ha, ha) ihre Ausbildung in unserem zu diesem Zeitpunkt noch mittelständischen Unternehmen unter der Führung des Unternehmensgründers, also meines Vaters. Nach ihrer Ausbildung im Jahre 1970 wurde Frau Müller direkt in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis übernommen und arbeitete als Sekretärin bis zum Jahre 1973. Dann sorgte sie für eine Expansion ihres eigenen Unternehmens namens Familie in Form von zwei Kindern (ha, ha, ha), so dass sie uns ihre Arbeitskraft für knapp 3 Jahre vorenthielt. Konnten wir ihr diesen Seitensprung verzeihen? (ha, ha, ha) Wir konnten. Kurz nachdem sie wieder ihre Tätigkeit in unserem Unternehmen aufnahm … mit vorbildlicher Disziplin … Weiterbildung in der Abendschule … ihrer Versetzung in die Buchhaltung … inzwischen große Herausforderungen der Unternehmensexpansion … erfolgreiches Bestehen in geänderten politischen Rahmenbedingungen … wenn auch mit schmerzhaften Einschnitten mit Bravour die Talsohle … dank neuer Marketingstrategien im globalisierten Markt … auch die digitale Revolution unbeschadet …blicken mit Zuversicht, Entschlossenheit und Mut … neue Generation … Performance … Frau Müller für ihren unermüdlichen und vorbildlichen  Einsatz … wertvollen Beitrag zur Erfolgsgeschichte … 45 Jahre Unternehmenszugehörigkeit danken.“ (Applaus)
Der Direktor übergab der hochgradig erröteten Frau Müller eine Urkunde und einen Blumenstrauß.
Jetzt war es an ihr, etwas zu sagen. Man sah sofort, dass das nichts werden konnte. Mit zitternden Händen faltete sie ein DIN A4-Blatt auseinander und stammelte hektisch und mit viel zu lauter Stimme etwas von einem lachenden und einem weinenden Auge und da musste sie von Tränen überwältigt auch schon abbrechen. Und dabei hatte sie sich extra in Schale geworfen. Sie trug eine rosa rüschenbesetzte Bluse mit einer schweren Brosche auf ihren ausladenden Vorbau. Wahrscheinlich war sie sogar extra noch beim Friseur gewesen, nein, hundertprozentig war sie extra noch beim Friseur gewesen. Sie sah aus wie alte Frauen, die noch großen Wert auf ihr Äußeres legen, eben aussehen: völlig belanglos, nur wenn man mal darüber nachdenkt: unglaublich deprimierend.
Eine Kollegin stürmte nach vorn und nahm sie in die Arme. Eine greifbare Peinlichkeit stand im Raum und alle klatschten, als hätten sie gerade die klügste und bewegendste Rede aller Zeiten gehört. Schmidt klatschte auch.
Als der Direktor Frau Müller dann auch noch umarmte, war es um sie geschehen. Ihre Beine gaben nach und der Direktor musste sie festhalten. Den nur kurz aufblitzenden aber unübersehbaren Ekel in seiner Miene überspielte er schnell mit einem mechanischen Grinsen. Um nicht laut loszulachen, stand Schmidt auf und marschierte Richtung Toilette. In der Kabine pinkelte er auf die Klobrille, auf die Klopapierrolle und an die Wand. Einfach so. Sein Beitrag zur Feier des Tages. Er hatte keine Ahnung warum.
Als er wiederkam, war das Buffet eröffnet und all die Angestellten standen da mit ihren Tellern wie geduldige, weil übersättigte Säue am Trog. Beate befand sich unter ihnen. Sie hatte sich schick gemacht und unterhielt sich gut gelaunt mit zwei anderen Frauen. Schmidt und Beate begegneten sich nur selten in der Firma und wenn, dann brachten sie es mit professioneller Freundlichkeit hinter sich. Mit Sicherheit wurde im Kollegium über sie geredet. Aber ihre Beziehung war von zu kurzer Dauer gewesen, als dass man daraus große Tratscharien hätte stricken können.
Schmidt holte sich noch ein 0,5er. Das Bier entfaltete jetzt langsam seine Wirkung und Schmidt starrte unverhohlen um sich. Mit bitterer Miene musterte er all seine Kolleginnen und Kollegen in ihren schicken Aufmachungen. Genüsslich stellte er sich vor, wie er seine Abschiedsrede gestalten würde: „38 Jahre habe ich hier gearbeitet. Folgenden hier anwesenden Personen wünsche ich die Krätze an den Hals: … Und folgenden hier anwesenden Personen wünsche ich ein langsames, qualvolles Sterben: …“ Das wäre mal eine Abschiedsrede: kurz und knackig, lustig und dazu auch noch spannend. Er sah die entsetzten und die amüsierten Mienen der Zuhörer direkt vor sich.
Aber wahrscheinlich werde ich das nicht bringen. Wenn es soweit ist, werde ich wahrscheinlich auch nur noch so ein angeschissenes, ausgelaugtes und humorloses Wrack sein wie all diese Arschkrücken hier. Mit jedem Stechen der Stechuhr wird deine Seele ein Stückchen mehr verstümmelt, bis irgendwann nur noch ein erbärmliches Häuflein Elend übrig bleibt.
Schmidt saß allein mit seinem Bier am Tisch und alles war nur noch beschissen und aussichtslos.
 17

Wieder zur Arbeit, immer das Gleiche, kein Ausweg in Sicht, es war Mittwoch.
Bei der Arbeit musst du mit Leib UND SEELE dabei sein, hatte man ihm an seinem ersten Arbeitstag gesagt. Was für ein Unsinn.
Der Kollege, der Schmidt diesen Rat gab, meinte das wirklich ernst. Wenn es um Projektarbeitsgruppen oder freiwillige Vertretungen und Zusatzdienste ging, meldete er sich als erster. Er war immer ansprechbar, immer freundlich, immer engagiert, immer interessiert, immer positiv, niemals kritisch. Er hatte es auf einen Abteilungsleiterposten abgesehen. Als dann so eine Stelle ausgeschrieben wurde und er sich bewarb, wurde er nicht mal zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Die Stelle wurde an eine Bewerberin von außerhalb vergeben. Die Abteilung war erleichtert, weil sie keinen Streber als Leiter haben wollte. Nach einem dreiviertel Jahr entpuppte sich die neue Abteilungsleiterin als unberechenbare, hysterische Cholerikerin, die oft krankgeschrieben war und gern ihre Untergebenen wegen Kleinigkeiten vor allen anderen zusammenschrie.
Der engagierte Kollege ließ sich nichts anmerken und lief weiter gut gelaunt und engagiert durch den Bürotrakt. Bei neuen Projekten war er immer noch vorne mit dabei, aber dann waren Veränderungen an ihm zu beobachten. Er wirkte oft fahrig und es dauerte nicht lange, bis er eine Abmahnung wegen nachlassender Leistung und einer zu hohen Fehlerquote erhielt.
Am Anfang hatte Schmidt das Spielchen natürlich auch mitgespielt, hatte an ein paar Arbeitsgruppen teilgenommen und immer so getan, als sei er an der Materie im höchsten Maße interessiert. Als die Probezeit vorbei war, zog er sich nach und nach zurück und irgendwann ließen sie ihn dann auch mit lästigen Zusatzaufgaben weitestgehend in Ruhe.
Diese Arbeit erschien ihm nicht nur sinnlos, Schmidt wusste, sie war sinnlos. Wären die meisten Menschen nicht so dumm, hätten sie längst erkannt, dass dieses Unternehmen nicht nur völlig überflüssig war, sondern dass ihr Leben ohne es sogar viel lebenswerter wäre.
Diese Arbeit war nichts als ein notwendiges Übel. Ein absurdes Spiel, das die Leute krank machte, wenn sie distanzlos darin aufgingen. Er wollte den Arbeitstag nur noch ohne allzu große Demütigungen rumkriegen und sich am Feierabend in Fernsehunterhaltung und am Wochenende in Alkohol flüchten. Er hatte inzwischen den Wodka für sich entdeckt. Er war effektiver als Bier und bereitete ihm nicht so einen großen Kater. Schmidt trank nur um der Wirkung willen und wenn er trank, dann trank er schnell, viel zu schnell; es war ein Ausdruck seiner Ungeduld, im Grunde die Sehnsucht nach einem schnellen Tod.
18

Sie verteilten den Glühwein und dann prosteten sie sich lachend zu. Was gibt es hier zu lachen? Schmidt wollte weg.
Die Einladung zum Besuch des heute eröffneten Weihnachtsmarktes hatte ihn viel zu überraschend ereilt, als dass Schmidt sich eine Strategie zur Vermeidung dieses zweifelhaften Vergnügens hätte überlegen können. Und da die Einladung von Frau Schultz-Kramer persönlich ausgesprochen wurde, war es ohnehin eher eine Aufforderung als eine Einladung. So hatte er natürlich ganz spontan und mit Freude zugesagt. Jedes auch nur noch so kurzes Zögern wäre ihm negativ ausgelegt worden.
Herr Eisler stellte sich neben die neue Kollegin Frau Jensen und legte ungeniert einen Arm um ihre Hüften, um mit ihr zu einem Party-Schlager, der aus kleinen Lautsprechern über ihnen knarzte, zu schunkeln. Frau Jensen ließ das mit sich geschehen. Sie war 17 Jahre jünger als Herr Eisler und er ihr Vorgesetzter. Eisler war bekannt dafür, dass er unverhohlen und aufdringlich mit Frauen flirtete, obwohl er verheiratet war und drei Kinder hatte. Er war gutaussehend und groß, hatte eine sportliche Figur und ein markantes Gesicht. Er strotzte vor Selbstvertrauen und Leichtigkeit. Letztes Jahr hatte er sich ein Einfamilienhaus gekauft, ein Reihenhaus, gelegen an einem Hang auf einem Neubaugebiet eines „geschichtsträchtigen Dorfes“. Mit „perfekter Verkehrsanbindung“ und „gehobener Nachbarschaft“, wie er es gern beschrieb. Schmidt hatte er hat mal ein Foto gezeigt: eine Spießerhütte in Spießerhausen befand Schmidt. "Dorfidylle mit intaktem Gemeinschaftssinn". Schmidt war in einem Dorf aufgewachsen, ihm war das vertraut und irgendwie war es auch in ihm verwurzelt. Die Leute hingen eng aufeinander und langweilten sich. Boshafter Tratsch war neben Fernsehen die beliebteste Unterhaltung. Erwachsene Menschen, Eltern und Großeltern, die dachten und empfanden wie neiderfüllte Kleinkinder. Vielleicht hatte es sich inzwischen dank Internet und Unterhaltungselektronik etwas entspannt. Das konnte Schmidt nicht beurteilen. Sobald sich ihm damals die Möglichkeit geboten hatte, hatte er dem Dorf ein für alle Mal den Rücken gekehrt. Die kalte, indifferente Anonymität der Großstadt war ihm sympathischer.
Die Raten für das Haus wird Eisler noch bis Renteneintritt und sogar ein wenig darüber hinaus abstottern müssen. Aber immer noch besser als Miete zahlen, wurde er nie müde zu betonen, da hat man im Gegensatz zur Miete am Ende was davon. Als er Schmidt vor einiger Zeit genau das mal wieder erörterte - es war das fünfte oder sechste mal, dass er das tat -, wies Schmidt ihn darauf hin, dass so ein Haus im Falle einer gescheiterten Ehe, was ja heutzutage eher die Regel ist, auch ein Riesenproblem sein könne. Eisler wiegelte Schmidts Einwand mit seinem kalten Siegerlächeln ab, ließ ihn aber fortan mit seinem Hauserwerb in Ruhe. Offensichtlich hatte Schmidt ins Schwarze getroffen. Eisler war das auch schon  bewusst gewesen, ansonsten hätte er nicht ständig die Vorzüge seines Hauserwerbs vor den anderen immer wieder so betont.
Wie Frau Jensen zu ihm stand, war schwer zu sagen. Sie befand sich noch in der Probezeit und hielt sich klugerweise bedeckt. Da sie sehr attraktiv war, hatten sich schon die ersten Kolleginnen hinter vorgehaltener Hand zu Wort gemeldet und sie als arrogant bezeichnet.
Neben Schmidt hatte sich Frau Bäumler gestellt. Sie war korpulent und hatte eine unreine Haut. Obwohl sie so dick war, waren ihre Brüste eher klein. Schlauchförmig und flach lagen sie auf ihren Kugelbauch. Sie ging jetzt langsam auf die vierzig zu und hatte noch nie einen Partner gehabt. Das war allgemein bekannt, aber keiner sagte was, denn sie war allgemein beliebt. Bei den Frauen, weil sie keine Konkurrenz darstellte - im Gegenteil: neben ihr gaben sie alle eine gute Figur ab - und bei den Männern, weil sie von ihnen gar nicht beachtet wurde, es also gar keinen Grund gab, sie nicht zu mögen.
Schmidt bestellte sich als erster der Runde einen zweiten Glühwein, was Frau Bäumler zu der Äußerung verleitete, da wolle es heute aber einer wissen. Schmidt war über ihre Dreistigkeit überrascht. Was denkt die sich! Er sagte ja ja und drehte sich von ihr weg.
Sie standen nun seit einer Stunde und siebenundvierzig Minuten beisammen und Schmidt fühle sich um seinen Feierabend betrogen. Die Smalltalkthemen waren ausgegangen, also unterhielt man sich wieder über die Arbeit. Herr Kampe erklärte, welche Auswirkungen das in nächster Zeit anstehende Softwareupdate der Fachanwendung für die Arbeitsabläufe in den einzelnen Abteilungen habe. Offensichtlich wollte er mit seinen sehr ins Detail gehenden Ausführungen Frau Schultz-Kramer beeindrucken. Er suchte bei seinem nicht enden wollenden Vortrag immer wieder ihren Augenkontakt.
Am anderen Tisch war die Stimmung besser. Eisler erzählte wilde Geschichten aus seiner Jugend. Er verfügte ohne jeden Zweifel über Entertainerqualitäten und die Frauen himmelten ihn an. In Schmidt brodelte es: Du kannst noch so eine miese dumme Sau sein, wenn du gut aussiehst und flott daherredest, stehen die Frauen Schlange. So ist das. Punkt. Ende. Aus. Innere Werte, Herzensbildung? - Lächerlich.
Als sich die Gruppe dann endlich auflöste, waren sich alle darüber einig, dass es ein toller Abend gewesen sei und man werde das mit Sicherheit wiederholen. Schmidt war erleichtert und freute sich auf sein Bett. Am wohlsten fühlte er sich inzwischen, wenn er einfach nur noch restlos erschöpft war und ins Bett durfte. Der Schlaf war ihm längst das Liebste.
19

Vorfreuden sind Trugbilder. Sirenengesang, der dich immer wieder zu Enttäuschung und Desillusionierung lockt. Der Volksmund setzt noch einen drauf und sagt: "Vorfreude ist die einzige Freude."
Schmidt glaubte immerhin noch an freudige Momente: spontan und so kurzlebig wie eine elektrostatische Entladung, die schon wieder vorbei ist, wenn man sie spürt. Aber viel mehr ist da nicht.
Herr Hoppe hatte Schmidt mal in einer Mittagspause erzählt, dass die Vorfreude auf das Tennisspielen am Freitagabend ihm gut über die Arbeitswoche hilft. "Und nach dem Tennis wird dann noch das eine und andere Bierchen mit den Kumpels gekippt", sagte er mit einem Augenzwinkern. Und nach einer kurzen rhetorischen Pause fügte er noch gewichtig hinzu: "Wissen Sie, der Mensch braucht immer etwas, auf das er sich freuen kann."
Herr Hoppe war in zweiter Ehe mit einer vierzehn Jahre jüngeren Frau verheiratet, hatte aus erster Ehe einen Sohn, der BWL in Bayreuth studierte und lebte in einem zum Wohnhaus umgebauten Bauernhof auf einem zwei Hektar großen Grundstück. Schmidt schätzte, Herr Hoppe verdiente in etwa fünfmal so viel wie er.
Erfolg im Leben ist weniger der Originalität als vielmehr der Angepasstheit geschuldet.
Schmidt trank, aber die Trunkenheit führte zu nichts mehr. Schmidt trank jetzt schon den ganzen Samstag und er wurde nach und nach einfach nur müde und schlapp. Den gleichen Ablauf hatte er im Prinzip jeden Tag auch ohne Alkohol. Alkohol ist nichts als ein Katalysator für bereits bestehende Befindlichkeiten.
Gestern hatte ihm Herr Meyer berichtet, er und seine Frau hätten während ihres Sommerurlaubs eine tolle Bergtour unternommen. Der Aufstieg sei äußerst beschwerlich und kräftezehrend gewesen, aber als sie oben waren und "der atemberaubend grandiosen Aussicht gewahr wurden", seien sie für ihre Mühen "tausendfach entlohnt" worden. Schmidt glaubte diesem Schwätzer kein Wort. Was soll diese ewige verlogene Schwärmerei? Ist diese billige Masche schon der ganze Trick? Müssen die Menschen sich ihr Leben einfach nur immer und immer wieder schön reden?
Schmidt ging ans Fenster und betrachtete die Kondensstreifen des Flugverkehrs im eisigen, strahlend blauen Himmel. Er stellte sich vor, es seien Asteroiden, die ersten Vorboten einer Deep-Impact-Apocalypse. Die Auslöschung der Menschheit, einschließlich ihn, erschreckte ihn nicht. Bei dem, was sie sich, einschließlich ihn, schon so alles geleistet hat, ist es eigentlich längst Zeit dafür. Vielleicht bringt die Evolution das nächste Mal ja was Besseres hervor: eine rein symbiotische Natur, die nicht auf dem Prinzip Fressen und Gefressen werden beruht.
Schmidt musste sich eingestehen, eine Depression entwickelt zu haben. Sie äußerte sich bei ihm in einer inakzeptablen Jämmerlichkeit. Jede Nacht, die er nicht alkoholisiert ins Bett ging, überfiel ihm kurz vorm Einschlafen schlagartig und begleitet von panischer Angst die Erkenntnis seiner Einsamkeit. Hilflos und gelähmt wie ein in die Enge getriebenes Tier verharrte er in der Embryonalstellung, bis die Panikattacke nachließ. Er verachtete sich für diese Schwäche und ging deswegen lieber alkoholisiert ins Bett, auch wenn er dafür den nächsten Tag nervlich angespannt und unausgeglichener verbringen musste.
Schmidt hatte alles satt. Er meldete sich krank. Es war ihm einfach unmöglich geworden, fünf Tage am Stück dort zu sein und wenn er da war, starrte er die meiste Zeit auf den Monitor, ohne etwas zu tun. Er zerbrach sich den Kopf über einen Ausweg. Bei den Öffentlich-Rechtlichen lief neulich eine Reportage über alternative Lebensentwürfe und Wohnformen. Neugierig gemacht durch die Ankündigung in der Fernsehzeitung sah er sich das an. Es war wieder mal eine Enttäuschung. Die Sendung handelte von einem einem Frührentner, der nur noch in seinem Wohnmobil lebte und damit in Deutschland unterwegs war. Er schwärmte von seiner Freiheit. Schmidt fand, der Mann war in etwa so frei wie ein Dackel mit einem Backstein am Hals. Ohne die nötigen Mittel für eine zumindest finanzielle Unabhängigkeit gibt es nicht mal so etwas wie eine Ahnung von irgendeiner Form von Freiheit. Für Schmidt war kein Ausweg aus seiner Tretmühle erkennbar.
Im Moment war er mit Sicherheit bei ungefähr zwei Promille angelangt und trotzdem gab seine Phantasie nichts her: keine Verklärung, keinen Größenwahn, nicht mal Selbstüberschätzung und keine verwegenen Pläne. Zwei Promille und nichts als Ernüchterung. Darüber musste er kurz lachen. Immerhin.
Aber der Alkohol verschaffte ihm Klarheit: Nichts ist irgendwas wert. War er nüchtern, ließ er sich nur wieder täuschen und einspannen von Begehrlichkeiten und Ängsten, von "Sachzwängen" und anderem Unfug. Er hatte auch keine Lust mehr aufs Essen, obwohl er Hunger verspürte.
Er wollte im Grunde nur noch schlafen.
Er trank weiter, um der Müdigkeit willen.
20

Schmidt schraubte die Wodkaflasche auf und goss sich einen ein. Heute hatte er sich einen teuren gegönnt, in einer schicken Flasche. In zwei Wochen war Weihnachten und seit fünf Stunden war er offiziell arbeitssuchend. Die Sachbearbeiterin von der Arbeitsagentur war unerwartet freundlich und hübsch und jung gewesen. Große, lustige Kulleraugen und ein breiter Mund mit einem großen, ansteckendem Lächeln. Allzu lange konnte sie dort noch nicht arbeiten.
Frau Schultz-Kramer hatte Schmidt letzten Freitag beim Nachhauseweg am Ausgang aufgehalten und ihn aufgefordert, ihr den Inhalt seiner Tasche zu zeigen. Schmidt empfand nichts, weder Überraschung noch Nervosität oder sonst was. Ohne zu zögern übergab er ihr die Tasche. Sie wusste, wonach sie zu suchen hatte und präsentierte es ihm mit der Aufforderung, sich diesbezüglich zu äußern: zwei Permanentmarker der Marke Staedtler, eine vollständige Packung Heftklammern der Marke Leitz und drei "Correct It"-Korrekturroller der Marke Pritt. Schmidt sagte: „Gut, machen sie, was sie wollen.“
Er fragte sich, wer ihn beobachtet und angeschwärzt hatte. Dann wurde ihm bewusst, dass das keine Rolle mehr spielte. Er wollte keinen Gedanken mehr an diese Leute verschwenden.
Als er sich den zweiten eingoss, nahm er sich vor, im anstehenden Rausch an die Sachbearbeiterin zu denken und sich ein Leben mit ihr auszumalen. Er kippte den Wodka und voller Vorfreude goss er sich einen weiteren ein. Sie ist nicht nur freundlich und hübsch und jung, sondern auch noch gut im Bett, hemmungslos und unkompliziert. Sie liebt mich über alles und sorgt mit ihrer unbekümmerten Art für gute Stimmung. Wir leben auf dem Land in einem kleinen aber feinen Eigenheim, etwas außerhalb. Sie verdient die Brötchen, während ich das Haus in Ordnung halte und mit dem Hund spazieren gehe und die Nachbarn freundlich aus der Ferne grüße.