Samstag, 19. Oktober 2019

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Beates Eltern wohnten in einem kleinen Dorf in einem kleinen zweistöckigen Fachwerkhaus mit kleinen Räumen und niedrigen Decken direkt an der Dorfdurchgangsstraße. Sie hatten es mit nachgemachten Bauernmöbeln, allerhand Nippes und einigen Stücken von Ikea vollgestopft. In allen Räumen roch es nach kaltem Stein und fauligen Obst.
Als Schmidt die enge knarzende Holztreppe hochstieg, weil Beate ihm unbedingt ihr altes Kinderzimmer, welches jetzt als Mutters Bügelzimmer diente, zeigen wollte, stieß er sich den Kopf an der Decke, was für eine allgemeine Erheiterung sorgte. „Tja, früher waren die Menschen nicht so groß“, sagte Beates Mutter.
Ihre Eltern waren sparsam. Der einzig beheizte Raum war die gute Stube, wo sie sich zum Kaffeetrinken niederließen. Beates Mutter, eine kleine, quirlige und freundliche Frau, die ganz aufgeregt war, weil sie ja nur noch so selten Besuch bekamen, hatte einen Marmorkuchen gebacken, der für Schmidts Geschmack viel zu trocken war. Der Vater, fett und kahlköpfig, saß die meiste Zeit wie fest gewachsen mit mürrisch entspannter Miene in seinem Sessel und leistete keinen Beitrag zur Bewirtung und Unterhaltung der Gäste. Die einzige Frage, die er Schmidt stellte, war, was für ein Auto er fuhr. Als Schmidt das mit Audi beantworten konnte, war er offensichtlich beeindruckt und zufrieden.
Schmidt war froh, dass sie nicht vorhatten, hier zu übernachten. Sofort nach dem Abendessen, es gab Graubrot mit Käse, Wurst und Eiersalat, wollten sie zurückfahren, so hatten sie es vorab mit den Eltern ausgemacht. Insgesamt war Schmidts Kopfstoß an der niedrigen Decke der emotionale Höhepunkt dieses Besuchs gewesen.
Als sie zurückfuhren, war Schmidt deprimiert. Während der zweistündigen Fahrt sprach er kein Wort und Beate spürte, dass sie besser auch den Mund hielt, obwohl sie sonst ein sehr redseliger Mensch war, vor allem wenn es darum ging, peinliche Situationen durch enthusiastisches Reden zu überdecken.
Ihre Frohnatur und ihre penetrante Schwärmerei für alltägliche Dinge war Schmidt schon ein paar Mal übel aufgestoßen.
"Guck doch mal, diese einmalige Holzmaserung von dem Tisch da!"
"Lies mal den Spruch hier auf der Glückwunschkarte! Echt lustig."
"Oh, wie hübsch der Balkon da dekoriert ist, guck doch mal, der Balkon da!"
Schmidt parkte vor ihrer Wohnung. Meistens hielten sie sich in Beates Wohnung auf. Beate fühlte sich in Schmidts Wohnung nicht wohl, sie sei ihr zu karg, zu unpersönlich, zu lieblos. Sie hatte ihm diverse Wohnaccessoires geschenkt: Vasen, Schalen, einmal ein Holzschild mit einem Spruch in Schönschrift: „Wer den Tag mit einem Lachen beginnt, hat ihn bereits gewonnen.“ Die Vasen und Schalen blieben leer und ungenutzt, das Schild hatte er nie aufgehangen.
Schmidt ließ den Motor laufen und gab ihr so zu verstehen, dass er nicht mit hoch kam. Nach einem kurzen Zögern stieg Beate schweigend aus. Sie weinte.