Samstag, 19. Oktober 2019

16

Schmidt war spät dran, deswegen hatte er keinen guten Platz mehr bekommen. Er musste an einem Tisch mit altgedienten Kolleginnen sitzen. Sie hatten den Unterhaltungswert von Zeuginnen Jehovas, die in der Fußgängerzone den Wachturm hochhalten. Anfangs brachte er sich noch ein mit ein paar Floskeln über das für diese Jahreszeit eindeutig zu milde Wetter („Wenn das die befürchtete Klimaerwärmung ist, dann habe ich nichts dagegen!“) und das verführerische Buffet („Eine Sekunde auf der Zunge, ein Leben lang auf den Hüften!“). Nach zwei Minuten hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Er holte sich ein Bier.
Die Getränke waren schon freigegeben. Mit dem Buffet mussten die Anwesenden dem Protokoll entsprechend warten, bis der offizielle Teil mit den Reden vorbei war. Alle warteten auf den Direktor, damit es endlich los- und vorbeigehen konnte, aber der ließ sich natürlich als viel beschäftigter Mann viel Zeit.
Am Nachbartisch saßen junge Kolleginnen vom Marketing. Einige der Frauen hatte Schmidt noch nie gesehen. Im Marketing gab es immer wieder in schneller Abfolge neue Gesichter. Meistens stylische distinguierte Frauen, frisch von der Uni, die aber nie lange blieben, weil sie sich doch was anderes vorgestellt hatten und hier ihr enormes kreatives Potential nicht voll entfalten konnten.
Die alten Frauen an Schmidts Tisch redeten in einem fort. Analysierte man ihr Geschwätz nach inhaltlicher Gewichtung, ließ das den Schluss zu, dass ab einem gewissen Alter das Leben nur noch aus Arztbesuchen und Essenszubereitungen besteht. Schmidt hielt sich an seinem Bier fest und beobachtete die jungen Frauen vom Nachbartisch. Er montierte ihre Gesichter in den Latinoporno, den er gestern Abend gesehen hatte. Vor allem die Cumshots spielte er mit ihnen der Reihe nach durch. Aber sein Kopfkino wurde wieder und wieder durch das penetrante Geschwätz der alten Frauen neben ihm unterbrochen, bis er schließlich völlig den Faden verlor. Und es kam noch schlimmer: Er sah die jungen Kolleginnen nicht mehr in den aufreizenden Latinaposen. Er sah ihre Prüderie. Es war so klar und offensichtlich. Er sah, wie sie abends müde und lustlos nach Hause kamen, unförmige Jogginganzüge überstreiften, sich aufs Sofa fläzten, zudeckten und furzten. Süßigkeiten mampfend switchten sie im Fernsehprogramm zwischen rührseligen Kitsch und infantilen Shows hin und her. Er hörte, wie sie nachts beim Schlafen mit den Zähnen knirschten und beobachtete, wie sie sich morgens unter der Dusche ohne eine Spur von Sinnlichkeit hektisch und mechanisch einseiften. Sie verwandelten sich unweigerlich in die alten Tanten an seinem Tisch.
Er holte sich noch ein Bier, diesmal ein 0,5er und trank es in großen Schlucken. Die alten Kolleginnen warfen ihm missbilligende Blicke zu. Er grinste in die Runde wie ein bierseliger Volltrottel. Was glotzt ihr so? Besonders du da, du runzliges, muffiges Überbleibsel von etwas, was vor langer Zeit vielleicht mal so etwas wie eine Frau gewesen war! Ich steh noch voll im Saft und für euch ist die Show ein für alle Mal gelaufen. Tja, Ladies, so sieht’s nun mal aus.
Er trank aus und holte sich noch eins.
Endlich kam der Direktor. Er stolzierte schnurstracks zum Rednerpult, holte seine Zettel aus der Sakkotasche und setzte seine Lesebrille auf. Offensichtlich wollte er den Stuss hier so schnell wie möglich hinter sich bringen. Als er sich in das Mikro räusperte, wurde es augenblicklich mucksmäuschenstill im Saal.
„Im Jahre 1966 – also zu einem Zeitpunkt, als viele der hier Anwesenden noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt haben, wahrscheinlich noch nicht einmal geplant waren (ha, ha, ha) – begann Fr. Müller – oder wie es damals noch politisch völlig korrekt hieß: FRÄULEIN Müller (ha, ha, ha) ihre Ausbildung in unserem zu diesem Zeitpunkt noch mittelständischen Unternehmen unter der Führung des Unternehmensgründers, also meines Vaters. Nach ihrer Ausbildung im Jahre 1970 wurde Frau Müller direkt in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis übernommen und arbeitete als Sekretärin bis zum Jahre 1973. Dann sorgte sie für eine Expansion ihres eigenen Unternehmens namens Familie in Form von zwei Kindern (ha, ha, ha), so dass sie uns ihre Arbeitskraft für knapp 3 Jahre vorenthielt. Konnten wir ihr diesen Seitensprung verzeihen? (ha, ha, ha) Wir konnten. Kurz nachdem sie wieder ihre Tätigkeit in unserem Unternehmen aufnahm … mit vorbildlicher Disziplin … Weiterbildung in der Abendschule … ihrer Versetzung in die Buchhaltung … inzwischen große Herausforderungen der Unternehmensexpansion … erfolgreiches Bestehen in geänderten politischen Rahmenbedingungen … wenn auch mit schmerzhaften Einschnitten mit Bravour die Talsohle … dank neuer Marketingstrategien im globalisierten Markt … auch die digitale Revolution unbeschadet …blicken mit Zuversicht, Entschlossenheit und Mut … neue Generation … Performance … Frau Müller für ihren unermüdlichen und vorbildlichen  Einsatz … wertvollen Beitrag zur Erfolgsgeschichte … 45 Jahre Unternehmenszugehörigkeit danken.“ (Applaus)
Der Direktor übergab der hochgradig erröteten Frau Müller eine Urkunde und einen Blumenstrauß.
Jetzt war es an ihr, etwas zu sagen. Man sah sofort, dass das nichts werden konnte. Mit zitternden Händen faltete sie ein DIN A4-Blatt auseinander und stammelte hektisch und mit viel zu lauter Stimme etwas von einem lachenden und einem weinenden Auge und da musste sie von Tränen überwältigt auch schon abbrechen. Und dabei hatte sie sich extra in Schale geworfen. Sie trug eine rosa rüschenbesetzte Bluse mit einer schweren Brosche auf ihren ausladenden Vorbau. Wahrscheinlich war sie sogar extra noch beim Friseur gewesen, nein, hundertprozentig war sie extra noch beim Friseur gewesen. Sie sah aus wie alte Frauen, die noch großen Wert auf ihr Äußeres legen, eben aussehen: völlig belanglos, nur wenn man mal darüber nachdenkt: unglaublich deprimierend.
Eine Kollegin stürmte nach vorn und nahm sie in die Arme. Eine greifbare Peinlichkeit stand im Raum und alle klatschten, als hätten sie gerade die klügste und bewegendste Rede aller Zeiten gehört. Schmidt klatschte auch.
Als der Direktor Frau Müller dann auch noch umarmte, war es um sie geschehen. Ihre Beine gaben nach und der Direktor musste sie festhalten. Den nur kurz aufblitzenden aber unübersehbaren Ekel in seiner Miene überspielte er schnell mit einem mechanischen Grinsen. Um nicht laut loszulachen, stand Schmidt auf und marschierte Richtung Toilette. In der Kabine pinkelte er auf die Klobrille, auf die Klopapierrolle und an die Wand. Einfach so. Sein Beitrag zur Feier des Tages. Er hatte keine Ahnung warum.
Als er wiederkam, war das Buffet eröffnet und all die Angestellten standen da mit ihren Tellern wie geduldige, weil übersättigte Säue am Trog. Beate befand sich unter ihnen. Sie hatte sich schick gemacht und unterhielt sich gut gelaunt mit zwei anderen Frauen. Schmidt und Beate begegneten sich nur selten in der Firma und wenn, dann brachten sie es mit professioneller Freundlichkeit hinter sich. Mit Sicherheit wurde im Kollegium über sie geredet. Aber ihre Beziehung war von zu kurzer Dauer gewesen, als dass man daraus große Tratscharien hätte stricken können.
Schmidt holte sich noch ein 0,5er. Das Bier entfaltete jetzt langsam seine Wirkung und Schmidt starrte unverhohlen um sich. Mit bitterer Miene musterte er all seine Kolleginnen und Kollegen in ihren schicken Aufmachungen. Genüsslich stellte er sich vor, wie er seine Abschiedsrede gestalten würde: „38 Jahre habe ich hier gearbeitet. Folgenden hier anwesenden Personen wünsche ich die Krätze an den Hals: … Und folgenden hier anwesenden Personen wünsche ich ein langsames, qualvolles Sterben: …“ Das wäre mal eine Abschiedsrede: kurz und knackig, lustig und dazu auch noch spannend. Er sah die entsetzten und die amüsierten Mienen der Zuhörer direkt vor sich.
Aber wahrscheinlich werde ich das nicht bringen. Wenn es soweit ist, werde ich wahrscheinlich auch nur noch so ein angeschissenes, ausgelaugtes und humorloses Wrack sein wie all diese Arschkrücken hier. Mit jedem Stechen der Stechuhr wird deine Seele ein Stückchen mehr verstümmelt, bis irgendwann nur noch ein erbärmliches Häuflein Elend übrig bleibt.
Schmidt saß allein mit seinem Bier am Tisch und alles war nur noch beschissen und aussichtslos.