Sonntag, 27. Juni 2021

 Überall, wo man, um bestehen und erfolgreich sein zu können, gut vernetzt sein musste, war er chancenlos, also nahm er mit dem vorlieb, was übrig blieb und so durfte er ein entspannt beständiges Leben führen: sein Leben.


Rainer R. besaß die bemerkenswerte Fähigkeit, innerhalb kürzester Zeit und ohne groß nachdenken zu müssen sich über alles und jeden eine schlechte Meinung zu bilden. Ansonsten war aber nicht viel mit ihm los.


Als junger Mann lachte er, wenn ihm eigentlich zum Heulen zumute war. Und das macht er heute noch. Das Wort "Resilienz" hat er noch nie gehört.


Seit jetzt 14 Jahren sitzt er mit ihr in einem Büro und ist immer noch darüber entsetzt, wie sie es innerhalb weniger Sekunden schafft, je nach Gesprächspartner von 'gereizt aggressiv' auf 'freundlich keck' umzuschalten. Frauen sind Monster und er ist Langzeitsingle.


Als der lediglich angelernte Angestellte Uwe L. wegen der rasanten Firmenexpansion schon nach kurzer Zeit zum Büroleiter ernannt wurde, kaufte er sich aus Jux einen "Ich Chef, Du Nix!"-Kaffeebecher. Für einen guten Kaffeebecher-Humor braucht es immer einen ernsten Hintergrund.


Wie er dann mitbekam, dass so eine Kirmeskapelle auf dem Stadtfest auch Punk- und Rocknummern im Repertoire hatte, die ihm wirklich noch was bedeuteten, war er beleidigt und ging nie wieder auf ein Stadtfest.


Den Ratschlag "Lass los! Du musst loslassen, einfach loslassen." hat er schon immer gehasst, nicht erst jetzt, wo er wegen seiner Verstopfung die Toilette blockiert.


Wer ist am bissigsten empört? Wer am originellsten? - Los, alle machen mit! Seien Sie kein Spielverderber, seien auch Sie dabei und machen auch Sie auf sich aufmerksam!


Im Einkaufscenter sieht er diese alten Leute
in ihren abstrusen Hosen und schrillen Blusen,
wie sie auf ihren Rollatoren
plappernd und nickend beisammen sitzen
und
was das Alter ihm mal bringt,
will er zweifelsohne gar nicht wissen.

Sonntag, 20. Juni 2021

 Ab und an musste er bei seinen Vorgesetzten mal Interesse an der Arbeit heucheln und so redete er eben mit ihnen über irgendeine berufliche Lächerlichkeit. So etwas gehört nun mal dazu, zur Arbeit.


Bestseller-Schund, pflegt er zu sagen, die Leute lesen nur noch Bestseller-Schund. Kafka, Goethe, Dostojewski - die Klassiker, das waren noch Bücher! Er selbst liest weder das eine noch das andere, hört sich aber selbst gern reden.


Elena A. ist ungeduldig, aber in erster Linie fällt sie anderen ins Wort, um ihre Dominanz auszudrücken. Es ist ihr manchmal fast unangenehm, aber sie will sich auch nicht selbst verleugnen, ja, ganz ehrlich, sie ist nun mal was Besseres.


Das Lästern überlässt er lieber denen, die, aus welchen Gründen auch immer, sehr ambitioniert darin sind. Sich letztlich selbst ans Bein zu pinkeln, ist einfach nicht so seins.


Früher bestand das Leben aus Arbeit, heute nur noch aus Geschwätz, ja, die Arbeit selbst: nur noch Geschwätz! Ist doch kein Wunder, dass die Leute nach und nach alle kirre werden.


Er musste noch zur Bundeswehr und hatte es gehasst. Jetzt ertappt er sich bei dem Gedanken, dass es vielen jungen Männern gut tun würde, wenn sie so was mal erleben und dabei was lernen müssten, und sei es nur, ein Hemd auf DIN A4-Größe zurecht zu legen.


Er ist lieb und 'n bisschen pummelig, seine Adidashosen und der Sportwagen reißen das aber wieder raus.


Etwa im gleichen Maße, wie es ihn in seiner Jugend zur "Action" drängte, drängt es ihn nun, eben diese zu vermeiden.


Schon sehr früh, schon bei den ersten Saufgelagen spürte er, dass der Alkohol alles andere in den Schatten stellt. Und genau so verhielt es sich fortan in seinem Leben.


Er leidet unter chronischem Fußpilz, und dass er dennoch darauf besteht, dass sein Sohn in seine Fußstapfen tritt, das sind jetzt aber eindeutig zwei Paar Schuhe.


Die Freude der Frauen an ihren luftigen Sommerkleidern stimmt mich milde und glücklich, jeden Sommer wieder.


Sein Leben lang hat er Bücher verehrt und ihnen vertraut und letztlich haben auch sie ihn im Stich gelassen. Hätte er sich doch nur seine eigenen Gedanken gemacht, sich seine eigene Geschichte erschaffen.

Montag, 7. Juni 2021

 Der Suff, die Partys und die Vögelei und das ganze Theater drumherum waren irgendwann keine große Sache mehr und das ratlose, entspannte Rumsitzen gewann an Relevanz.


Das Leben bewegungsarm, das Gemüt gefühlsarm, das Gesicht ausdrucksarm. Er war kein Philosoph, er war der Hartmut M. und wurde 78 Jahre alt.


Manchmal wünscht er es sich so sehr: einfach mal einstimmen in das gesellige Gelächter. Aber er schafft es nicht, bringt es einfach nicht über sich, sich selbst so zu verleugnen.


Sophia A. wuchs behütet auf, ging immer gern zur Schule und nach dem Abitur hat sie ihre Lieblingsfächer auf Lehramt studiert und jetzt freut sie sich, direkt wieder in die Schule zurückzukehren, um mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen Kinder aufs Leben vorzubereiten.


Also früher, da haben die Leute ja auch noch viel mehr gelesen. Zum Beispiel morgens die BILD, damit man dann auf Arbeit was hatte, worüber man sich aufregen und mit den Kollegen einer Meinung sein konnte. Da herrschte noch Zusammenhalt und noch nicht diese zänkische Diversität.


Das Lottoschild an seinem Stammkiosk lässt ihn in Illusionen schwelgen: 11 Millionen! Statt eines Lottoscheins kauft er sich aber lieber noch 'ne Dose Bier und schwelgt damit weiter in seinen Illusionen.


Der alte Mann, der immer das Gleiche erzählt, weil er niemanden mehr hat, mit dem er mal was Neues erlebt: Er merkt es ja selbst, aber was will er denn machen? Phantasie hat er noch nie besessen, in seinem Leben war kein Platz für Phantasie.


Tatsächlich liegt es ihm fern, witzig sein zu wollen. Oft ist er es einfach. Er ist ein humorvoller Mensch, kein Witzbold.


Menschen, die nicht gleich beleidigt und auch nicht ewig nachtragend sind: nur schwer vorstellbar für Menschen, die gleich beleidigt und ewig nachtragend sind.

Mittwoch, 2. Juni 2021

 Sein Leben befand sich in einer Sackgasse, zu lange schon. Resigniert richtete er sich ein und jetzt sitzt er auf seinem Roomscape-Ecksofa in Eierschalenweiß und starrt seinen Wohnzimmerwandschrank, Modell "Prestige", an - Nun ist er also angekommen, im Leben.


Bei der Arbeit war er im Wesentlichen der Langeweile und Unsinnigkeit ausgesetzt. Er hatte genug Erfahrung, um zu wissen, dass es Schlimmeres gibt.


Jeden Morgen so gegen halb 6 erwacht das Mietshaus um ihn herum mit Türenschlagen, Radiogedudel, Getrampel, Gepolter und trockenem Gehuste. Es stimmt ihn ein auf die Unruhe in der Werkshalle, die ihn gleich erwartet, und er weiß, er hat keine Wahl.


Als er dann mitbekam, dass es nicht an ihm lag, dass die Kollegin einfach nur ein unhöflicher und von Grund auf feindseliger Mensch war, war er erleichtert, musste er ihr fortan doch keine freundliche Aufmerksamkeit mehr vorspielen.


Er saß mit einem Bier auf der Parkbank und schaute ihnen zu. Ein attraktives Pärchen, sympathisch, etwa in seinem Alter. Sie warfen sich gegenseitig ein Frisbee zu und lachten. Sie gehörten zu einer Welt, die er nicht verstand.


Er hat genug von diesen Rührseligkeiten. Das Leben ist nicht so; sein Leben ist nicht so, niemals. Diese konstruierten Rührseligkeiten verhöhnen doch die Menschen, nach Strich und Faden verhöhnen sie sie!


Alt-Hippies, Alt-Punks und Alt-Raver in sanierten Altbauten, während nun des Nachts in den Straßen umher der "Pöbel" tanzt.