Sonntag, 24. Februar 2019

Frank R. sorgte vor und gab auf sich acht. Für ein Notfallbesäufnis - Zahnschmerzen am Wochenende, Bürgerkrieg, Asteroideneinschlagapokalypse - hatte er immer genügend Schnaps im Hause. Auch entsprechende Notfallübungen führte er regelmäßig durch.


Er hatte nichts zu tun und ließ einen Furz. Es war ein guter Furz: kraftvoll, aber unaufgeregt, von trockener Konsistenz und kerniger Würze. Er hatte weiterhin nichts zu tun und wartete auf den nächsten Furz.

Sonntag, 17. Februar 2019

Die Wohnung befand sich in einem Plattenbau. Sozialer Wohnungsbau: das bescheidene Zuhause für bescheidene Verlierer. Hier mindestens 15 Stockwerke hoch.
Einige Elemente der Hausfassade hatten jüngst einen neuen Anstrich erhalten, ein fröhlich gemeintes Orange. Es sah aber immer noch bescheiden aus. Vor dem Eingang saß eine kleine Runde von verwahrlosten Männern auf neu aufgestellten Holzbänken. Sie grunzten und rotzten und soffen Bier aus PET-Flaschen, das sie in  verdreckten Discountertüten mit sich führten. Um sie herum hatten sich große und kleine Pfützen auf dem Asphalt gebildet: Pisse und Spucke, vermutete Schmidt.
„In diesem Land geht es den Dreckspennern einfach zu gut“, sagte Schmidt im Vorbeigehen in einer Lautstärke, dass die Männer es hören konnten.
„Wo du Recht hast, hast du Recht“, sagte Horsti in einer Lautstärke, dass die Männer es nicht hören konnten.
Sie stiegen in den Fahrstuhl. Horsti drückte die Elf. Jetzt konnte Schmidt sehen, dass es sogar 18 Stockwerke gab. Die Kabine war mit Tags und obszönen Zeichnungen beschmiert und die Innenverkleidung von Tritten und Faustschlägen verbeult. Es roch nach Zwiebeln und vollgepisster Gummimatte.
„Mann, Mann, Mann“, sagte Schmidt. Horsti sagte nichts. Er verstand nicht, was Schmidt meinte. Für ihn war dieser ganze Dreck und Gestank hier Alltag.
Im 3. Stock hielt der Fahrstuhl und ein übergewichtiger Halbstarker mit betont mürrischer Miene stieg zu ihnen ein. Er trug Baggy-Pants und ein Basketballtrikot. Aus seinen Kopfhörern knatterte laute Musik. Offensichtlich beeinflusst von der Rapkultur meinte er, seiner Existenz im niederen sozialen Milieu etwas Abenteuerliches und Heroisches abgewinnen zu können. Im 4. Stock stieg er wieder aus.
Als sie den Fahrstuhl verließen, mussten sie nur einmal kurz links um die Ecke und schon waren sie da. Horsti schloss die Tür auf. Sofort stieg Schmidt der typische Mief alter Menschen in die Nase.
„Mutti, wir sind da“, rief Horsti in den Flur. Er zog sich die Schuhe aus. Schmidt ließ seine an. Sollte er etwa in Socken hier herumlaufen? Er folgte Horsti ins Wohnzimmer. Horstis Mutter saß in einem riesigen beigefarbenen Fernsehsessel aus längst vergangenen Zeiten. Sie war zierlich und in sich zusammengefallen. Wie ein Insekt in einer fleischfressenden Pflanze klebte sie in dem übermächtigen Sessel und wurde nach und nach verdaut.
Aber ihre Augen waren hellwach. Ein empörter Gesichtsausdruck hatte sich im Lauf der vielen Jahre in ihrem Gesicht verfestigt. Sie war offensichtlich entschlossen, noch viele viele Jahre am Leben zu bleiben. Sei es auch nur, um ihrer allumfassenden Empörung Ausdruck zu verleihen.
Empört musterte sie Schmidt. Er schaute sich um. Das Zimmer war über und über mit Puppen zugestellt. An den Wänden auf langen Regalböden, auf Beistelltischchen, auf den Fensterbänken, auf den Boden, auf und um den Fernseher, in drei Glasvitrinen: überall Puppen in allen Größen und Variationen: Puppen aus Plastik, Puppen aus Keramik, Babypuppen, Kleinkindpuppen, lachende Puppen, schmollende und heulende Puppen. Da stand sogar ein echter Kinderwagen, aus dem ihn mehrere Puppengesichter anstarrten.
„Mutti mag Puppen“, sagte Horsti, als er merkte, dass Schmidt etwas irritiert die Puppenhorde betrachtete.
„Richtige Enkelkinder wären mir lieber“, sagte Horstis Mutter mit erstaunlich kräftiger Stimme.
Als Schmidt später am Abend auf Toilette musste, konnte er feststellen, dass sogar das Badezimmer von Puppen bevölkert war. Auf der Toilette sitzend hockte ihm direkt gegenüber ein Puppenmädchen im Nachthemd auf einem Puppennachttopf. Es grinste feist und hatte gerötete Bäckchen und lange blonde Locken. Schmidt hob es hoch und schaute ihr unter das Nachthemd und in den Nachttopf. Es gab aber nichts zu sehen. Er überlegte kurz, ob er etwas von seinem Kot für einen Spaß abzweigen sollte. Er ließ es aber sein, da ja nur er für die Aktion verantwortlich gemacht werden konnte und es niemanden gab, mit dem er zusammen hätte drüber lachen können.
Die Angestellten genießen ihre Gnadenfrist mit dem bald in Rente gehenden, berufsmüden und altersmilden Geschäftsführer Dr. Hans P. Die potentiellen Nachfolger, allesamt eitle Ehrgeizlinge, beziehen bereits Stellung.


Als die neue Bereichsleiterin Larissa L. einen Nervenzusammenbruch erlitt, lachte der Vorarbeiter Karsten 'Kralle' R. sich schlapp, weil er sich an seine Schulzeit erinnert fühlte, wo sie die Referendarinnen da immer so fies fertig gemacht hatten.


Ihre innere Härte und emotionale Kälte verzögerten ihren Alterungsprozess. Mit einer nahezu pathologischen Genugtuung betrachtete sie den körperlichen Verfall ihres einst so stolzen und herrischen Mannes.


Auch wenn es für ihn wohl die Arbeitslosigkeit bedeutet, betrachtet der Lohnbuchhalter Uwe W. den sich abzeichnenden Niedergang der Firma mit diebischer Freude. Gefangen in Frustration und Lethargie ist ihm inzwischen jede Art von Veränderung in seinem Leben willkommen.


Als der Sachbearbeiter Jens P. dann statt des üblichen Familienfotos das Filmzitat "Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen ..." als gerahmte Devise auf seinen Schreibtisch stellte, irritierte das Kollegen und Vorgesetzte unangenehm.


Da kann man wirklich nicht meckern, bemerkte Gisela L. angesichts der wirklich günstigen Preise. Misslaunig fühlte sie sich um ihr Meckern betrogen.


Er blieb auch im hohen Alter neugierig und aufmerksam, erkannte immer wieder Neues im vermeintlich Vertrauten. Das meiste gefiel ihm nicht, aber er blieb dran, er bewahrte sich seine Würde.


Statt mit Alkohol solle er sich doch mal für die überstandene Arbeitswoche mit etwas anderem belohnen. Alles, was diese nichtsnutzigen Narren ihm ernsthaft als Alternative vorschlugen, kränkte ihn zutiefst in seiner Ehre.


Mit 16 flog Kai von der Schule, in keinem Job hielt er sich länger als 3 Monate, seine Ex hat ein Kontaktverbot erwirkt und seine Tochter will nichts von ihm wissen, in 8 Lokalen hat er Hausverbot. So langsam fragt sich Kai echt, was mit all den Leuten eigentlich nicht stimmt.


Joely O. hatte den Minimalismus-Lifestyle für sich entdeckt. In ihrer privilegierten Position war es kein Problem für ihre Eltern, auch bei dieser spätpubertären Phase gelassen zu bleiben und ihr nachher wieder Kleiderschrank und Wohnung großzügig zu füllen.


Gelegentlich, in ganz besonderen, spirituellen Momenten, nach einem dreiviertel Liter Wodka etwa spürt Ludwig W., den Blick gen Himmel gerichtet, dass irgendwo da draußen eine große, eine unermesslich große Gleichgültigkeit im Gange ist.

Sonntag, 10. Februar 2019

Seitdem Susanne S. an dem Info-Point arbeiten muss, selbstverständlich stets mit einladend vergnügter Miene, ist "Bitte, geh' weiter - bitte, bitte, geh' einfach weiter!" ihr am häufigsten gedachter Wunsch.


Hartmut R. steckt fest in seinem bürgerlichen Sicherheitsbedürfnis, in finanziellen Verpflichtungen und einem Beruf, der ihm nur noch auf den Sack geht. Als er neulich seinen Unmut über seine Situation äußerte, hieß es, er jammere auf hohem Niveau.


Herr S. vermisst die Zeit, als das soziale Miteinander in Deutschland noch vornehmlich rational statt emotional geprägt war.


All die enttäuschten und gequälten Gesichter bei den Besuchern im neu eröffneten Shopping-Paradies haben nichts zu bedeuten, die Leute sehen immer so aus.

Sonntag, 3. Februar 2019

Um seine Arbeitslosigkeit zu verbergen, ging er wochentags stets mit Sicherheitsschuhen und Arbeitshose aus dem Haus. Die Täuschung half ihm ein wenig bei der Aufrechterhaltung seiner Würde. Beim Jobcenter hieß es, er sei ja nun leider schon 53.


Es fühlt sich gut an, freundlich und höflich zu sein. Vor allem gegenüber jemanden, der es von sich aus nicht ist.


Das einzige, was er in Zusammenhang mit seiner Arbeit noch mit ernsthaftem Engagement und freudiger Erregung angeht, ist die Planung und Durchführung seiner Urlaubstage.


Sie liebte den Luxus nicht, er war ihr schon längst selbstverständlich.


Er wünscht sich ein Job-Downgrade: eine stupide Tätigkeit ohne Verantwortung und ohne Kundenkontakt, um auch während der Arbeitszeit gedankenversunken mehr bei sich sein zu können.


Herr P. hatte bei der Arbeit eine meisterhafte Perfektion darin entwickelt, jede noch so harmlose Erkältung durch theatralisches Husten, Schnäuzen und Seufzen so in Szene zu setzen, dass seine Opferbereitschaft für den Betrieb über jeden Zweifel erhaben war.


Berthold W. war nun mal geräuschempfindlich und so suchte er nach einer Wohnung mit ausschließlich toten Nachbarn.