Sonntag, 17. Februar 2019

Die Wohnung befand sich in einem Plattenbau. Sozialer Wohnungsbau: das bescheidene Zuhause für bescheidene Verlierer. Hier mindestens 15 Stockwerke hoch.
Einige Elemente der Hausfassade hatten jüngst einen neuen Anstrich erhalten, ein fröhlich gemeintes Orange. Es sah aber immer noch bescheiden aus. Vor dem Eingang saß eine kleine Runde von verwahrlosten Männern auf neu aufgestellten Holzbänken. Sie grunzten und rotzten und soffen Bier aus PET-Flaschen, das sie in  verdreckten Discountertüten mit sich führten. Um sie herum hatten sich große und kleine Pfützen auf dem Asphalt gebildet: Pisse und Spucke, vermutete Schmidt.
„In diesem Land geht es den Dreckspennern einfach zu gut“, sagte Schmidt im Vorbeigehen in einer Lautstärke, dass die Männer es hören konnten.
„Wo du Recht hast, hast du Recht“, sagte Horsti in einer Lautstärke, dass die Männer es nicht hören konnten.
Sie stiegen in den Fahrstuhl. Horsti drückte die Elf. Jetzt konnte Schmidt sehen, dass es sogar 18 Stockwerke gab. Die Kabine war mit Tags und obszönen Zeichnungen beschmiert und die Innenverkleidung von Tritten und Faustschlägen verbeult. Es roch nach Zwiebeln und vollgepisster Gummimatte.
„Mann, Mann, Mann“, sagte Schmidt. Horsti sagte nichts. Er verstand nicht, was Schmidt meinte. Für ihn war dieser ganze Dreck und Gestank hier Alltag.
Im 3. Stock hielt der Fahrstuhl und ein übergewichtiger Halbstarker mit betont mürrischer Miene stieg zu ihnen ein. Er trug Baggy-Pants und ein Basketballtrikot. Aus seinen Kopfhörern knatterte laute Musik. Offensichtlich beeinflusst von der Rapkultur meinte er, seiner Existenz im niederen sozialen Milieu etwas Abenteuerliches und Heroisches abgewinnen zu können. Im 4. Stock stieg er wieder aus.
Als sie den Fahrstuhl verließen, mussten sie nur einmal kurz links um die Ecke und schon waren sie da. Horsti schloss die Tür auf. Sofort stieg Schmidt der typische Mief alter Menschen in die Nase.
„Mutti, wir sind da“, rief Horsti in den Flur. Er zog sich die Schuhe aus. Schmidt ließ seine an. Sollte er etwa in Socken hier herumlaufen? Er folgte Horsti ins Wohnzimmer. Horstis Mutter saß in einem riesigen beigefarbenen Fernsehsessel aus längst vergangenen Zeiten. Sie war zierlich und in sich zusammengefallen. Wie ein Insekt in einer fleischfressenden Pflanze klebte sie in dem übermächtigen Sessel und wurde nach und nach verdaut.
Aber ihre Augen waren hellwach. Ein empörter Gesichtsausdruck hatte sich im Lauf der vielen Jahre in ihrem Gesicht verfestigt. Sie war offensichtlich entschlossen, noch viele viele Jahre am Leben zu bleiben. Sei es auch nur, um ihrer allumfassenden Empörung Ausdruck zu verleihen.
Empört musterte sie Schmidt. Er schaute sich um. Das Zimmer war über und über mit Puppen zugestellt. An den Wänden auf langen Regalböden, auf Beistelltischchen, auf den Fensterbänken, auf den Boden, auf und um den Fernseher, in drei Glasvitrinen: überall Puppen in allen Größen und Variationen: Puppen aus Plastik, Puppen aus Keramik, Babypuppen, Kleinkindpuppen, lachende Puppen, schmollende und heulende Puppen. Da stand sogar ein echter Kinderwagen, aus dem ihn mehrere Puppengesichter anstarrten.
„Mutti mag Puppen“, sagte Horsti, als er merkte, dass Schmidt etwas irritiert die Puppenhorde betrachtete.
„Richtige Enkelkinder wären mir lieber“, sagte Horstis Mutter mit erstaunlich kräftiger Stimme.
Als Schmidt später am Abend auf Toilette musste, konnte er feststellen, dass sogar das Badezimmer von Puppen bevölkert war. Auf der Toilette sitzend hockte ihm direkt gegenüber ein Puppenmädchen im Nachthemd auf einem Puppennachttopf. Es grinste feist und hatte gerötete Bäckchen und lange blonde Locken. Schmidt hob es hoch und schaute ihr unter das Nachthemd und in den Nachttopf. Es gab aber nichts zu sehen. Er überlegte kurz, ob er etwas von seinem Kot für einen Spaß abzweigen sollte. Er ließ es aber sein, da ja nur er für die Aktion verantwortlich gemacht werden konnte und es niemanden gab, mit dem er zusammen hätte drüber lachen können.