Donnerstag, 22. November 2018

Herr S. amüsiert sich gern über vulgäre Scherzartikel in Ramschläden. Die Vorstellung, wie erwachsene Menschen so etwas mit professioneller Ernsthaftigkeit entwickeln, herstellen und vertreiben, ist der eigentliche Scherz des Scherzartikels.
Schwer verkatert und jämmerlich kleinmütig dachte er an seine betrunkene Prahlerei von gestern Nacht, an seine heroischen Vorhaben und seine ach so genialen Einfälle. - Genau da wollte er wieder hin.
Der erbitterte Anarchist und Hausbesetzer Marcel M. forderte in der Notaufnahme für seinen Mittelhandbruch lauthals eine Chefarztbehandlung. Er wusste, seine scheiß Spießer-Eltern hatten da mal so eine Zusatzversicherung für ihn abgeschlossen.
Der Finanzdienstleister Marc R. gratuliert seinen Kunden nach Abschluss eines (für ihn) lukrativen Vertrags zu ihrer klugen Entscheidung und ihrer Cleverness. Fast alle fühlen sich tatsächlich geschmeichelt. Das ist es, was Marc R. antreibt.
Schon arg angegraut und bierbäuchig kam er einfach nicht los von seiner Jugend, noch nicht einmal bei der Auswahl seiner Garderobe. Die Türsteher der Großraumdisco kannten ihn, er war harmlos und aus Mitleid winkten sie ihn gönnerhaft durch.
Selbstbewusst, klug und stilsicher tat er dann genau das, was ein wahrer Champion und Gentleman von Welt in solchen Situationen und im Umgang mit solchen Personen instinktiv immer zu tun pflegt: nichts.
Der Scherzartikelhersteller, der für die Sparte "Imitate von Körperausscheidungen" einen neuen Produktdesigner suchte, erhielt nur sehr wenige Bewerbungsmappen mit wirklich ästhetisch ansprechenden Arbeitsproben. Der Fachkräftemangel zeigt sich allerorten.
Herr S. trägt gern grau, beruflich und privat. Bei aller Sympathie für die gesellschaftliche Buntheit hält er das seriöse Grau für mindestens genau so wichtig.
Mit mürrischer Miene freute sich Uwe P. im Stillen, dass dieses Krimi-Dinner so ein unglaublich peinlicher und nervtötender Mist war, hatte er doch Recht behalten und konnte seine Frau ihn unmöglich wieder zu so einem albernen Firlefanz mitschleifen.
Ihre bis zur Selbstaufgabe devote Freundlichkeit empfand Herr S. langsam als unhöflich.

Sonntag, 11. November 2018

Seiner beachtlichen Körpergröße von 1,94 m war er nicht gewachsen; leicht bucklig, gesengten Blicks und stets hastig lief er durchs Leben, vorbei an allem, was ihn hätte aufrichten können.
Damals hatte er sein Hobby zum Beruf gemacht. Inzwischen erträgt der Briefmarkenhändler Ernst M. sie nicht mehr: diese Michel-Katalog studierenden alten Narren, die seit Jahren in sein Geschäft kommen und ihm sein verpfuschtes Leben vor Augen führen.
Mag ja sein, dass es einem hilft, wenn man die Scheiße schon mal erlebt hat, die einem gerade widerfährt, so richtig nach vorn bringt einen das aber auch nicht, dachte er, während dieser "schwierige" Kunde ihn wieder mal beschimpfte.
Sein Zeitungsabo hatte er gekündigt. Er las nur noch die Schlagzeilen im Internet und die aufgeregten Leserkommentare. Jetzt war er näher dran am Geschehen und es war unterhaltsam. Schon bald entstellte die Fratze des Wutbürgers seine einst entspannten Gesichtszüge.
Sie war eine hagere Erscheinung, innerlich wie äußerlich verhärtet, anspruchsvoll und streng mit sich selbst und ihrem Umfeld. Liebe hatte sie zeitlebens nur als Imperativ erfahren und begriffen.
Als der junge, engagierte Schulbibliothekar Peter S. erfuhr, dass die Schüler ihn nur "Die Bücher-Schwuchtel" nannten, half ihm das im Nachhinein dabei, seine Arbeit und berufliche Identität weniger wichtig zu nehmen und sein Glück im Privaten zu suchen und zu finden.
Aus Gier und in Ermangelung eines anderen Hobbys zog er jeden Samstag- und Sonntagmorgen um 4 Uhr los, um die Pfandflaschen der Nachtschwärmer zu sammeln. Auf die Frage, warum er den wirklich Bedürftigen das Pfand streitig mache, nuschelte er was von einem frühen Vogel.
Sie lächelte, sie strahlte. Seine Zuneigung wuchs und er versuchte zaghaft, ihr heiteres Gespräch aus der Unverbindlichkeit des Smalltalks zu befreien. Mit dem gleichen strahlenden Lächeln kam sie umgehend wieder aufs Wetter zu sprechen. Noch nie hatte er so eine Kälte verspürt.

Sonntag, 4. November 2018

Tief beeindruckt von dem neuen Ratgeber "ICH: ALPHA-MANN!" betrat er fortan mit dem strengen Blick der Entschlossenheit die Bühne des Lebens. Zwei Wochen später war er immer noch Lagerist und Single, der Blick wieder matt und beim Abendessen lief eine alte Bruce Willis-DVD.
Ihre alljährlichen Pauschalreisen waren schon lange keine Erinnerung mehr wert. Um mal ein Jahr auszusetzen, schob er gesundheitliche Probleme vor, worüber sie sich mächtig aufregte, wobei es ihr im Stillen aber mehr als recht war.
Dr. med. Uwe R. wurde im Alter etwas wunderlich. Die besorgten Arzthelferinnen ließen nur noch Patienten zu ihm durch, die ohnehin bloß jemanden zum Zuhören brauchten. Seine Praxis entwickelte sich rasch zu einem heißen Insider-Tipp der hiesigen Schickeria.
Als Gerda S. sah, dass der Laden, in dem sie vor einem Jahr ein Schnäppchen im "Totalausverkauf" gemacht hatte, immer noch diesen "Totalausverkauf" betrieb, fühlte sie sich verschaukelt und war empört. Sie ging in den Laden und kam mit zwei neuen Schnäppchen wieder raus.
Er ist kein Idiot, ganz und gar nicht. Er redet idiotisches Zeug und macht idiotische Dinge, weil er sich einfach mal in all der erdrückenden Vernunft lebendig fühlen will.
Vertraue grundsätzlich nur Leuten, die keinerlei Wind um ihre Person machen, gab ihm sein Vater als Rat mit auf den Weg. Aber er wusste es besser und machte äußerst erfolgreich Karriere als Unternehmer, weil er sich nicht scheute, das miese Spiel einfach mitzuspielen.
Jeden Tag sieht man den 82jährigen Richard W. akkurat in Schlips und Kragen im Dorf seine Runde drehen. Nach dem Tod seiner geliebten Frau musste er wieder lernen, für sich selbst zu sorgen und der feine Anzug und die geputzten Schuhe geben ihm Halt und verleihen ihm Würde.
Als Kind musste er jeden Samstag die Einfahrt kehren. Er musste perfekt kehren, alles an seiner Familie war perfekt. War er fertig und der Wind wehte ein Blatt in die frisch gekehrte Einfahrt, bekam er Wutanfälle. Seine mit Stolz erfüllten Eltern amüsierten sich dann über ihn.
Massiv verkatert am Sonntag: Jetzt gegen seine Depression anzukämpfen, wäre so, als wolle er einen fahrenden Bus aufhalten, indem er sich dagegen stemmt, während er drinsitzt. Er blieb im Bett, schloss die Augen und atmete.
Mindestens jeder zweite Gast des hochrangig besuchten Sektempfangs möchte den Abend eigentlich viel lieber allein zu Hause auf dem Sofa verbringen und bei ein paar Bier, salzigen Snacks und einem albernen Film ab und an einen fettigen Furz rausknattern.
Seine Tätowierungen erzählen von einem Leben, das er gar nicht führt. Freiheit und Abenteuer müssen ohnehin warten, er spart jetzt erst mal für eine Eigentumswohnung.
Sie schmiss die Ratgeber ins Altpapier, vertraute wieder ihrem gesunden Menschenverstand und achtete auf ihr Körperempfinden. Die sich rasch einstellende Klarsicht war überwältigend. Sie schrieb darüber einen Erlebnisbericht in Form eines Ratgebers.
Er war es einfach nur noch leid, ahnte aber, dass seine beruflichen Fertigkeiten außerhalb dieses Büros nirgendwo mehr irgendeine Relevanz besaßen. Er blieb ein mutlos Gefangener, der die Tage im Wandkalender auskreuzt.
Als es dem Hausmeister Uwe S. damals untersagt wurde, in den Pausen Schokolade und Joghurt zu verkaufen, verbündete er sich mit den Schulhofrabauken in der Raucherecke und erzählte ihnen hinter vorgehaltener Hand pikante Anekdoten aus dem Lehrerzimmer.
Oft überfallen ihn unerwünschte Erinnerungen und peinigen ihn bis ins Mark; die erwünschten Erinnerungen hingegen sind reichlich abgenutzt und besitzen bei weitem nicht diese Durchschlagskraft.
Sicher wünscht er sich angesichts des stetigen körperlichen Verfalls und der damit verbundenen Beeinträchtigungen die Gesundheit der Jugend zurück; die heilsame Erschöpfung des Alters möchte er aber keinesfalls missen.