Samstag, 19. Oktober 2019

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Herr Bloch hatte starke Blähungen und er befände sich jetzt in einem Alter, wo es seinem Körper nicht mehr recht gelingen wollte, diese zurückzuhalten, so entschuldigte er es zumindest gegenüber Frau Sauer. Vielleicht sah Herr Bloch in seinem Alter auch einfach keine Notwendigkeit mehr, seine Blähungen zurückzuhalten. Fünf Jahre noch, dann ging er in Rente. Er war ein freundlicher, unauffälliger Angestellter, der zuverlässig seine Arbeit machte, nicht mehr und nicht weniger. Er war von etwas dicklicher Figur und trug graue oder dunkelblaue Anzüge. Seine Blähungen, das war das einzige, was ihn auszeichnete.
Frau Sauer teilte sich das Büro mit ihm und beschwerte sich: "Er sagt zwar Entschuldigung, meint es aber nicht, er genießt es richtig, das sehe ich ihm an, eine Zumutung ist das, eine Zumutung!"
Frau Sauer war eine kleine, stämmige Person mit einem energischen Gang. Sie war grell geschminkt und übertrieb es auch mit ihrem Parfüm und ihrem Haarspray. Nach eigener Aussage legte sie höchsten Wert auf Körperhygiene. Sie war Mitte dreißig und wollte gern Karriere machen. Deswegen besuchte sie viele Fortbildungen, die meisten sogar auf eigene Kosten. Sie war aber zu dumm, deswegen brachten die Fortbildungen ihr nichts.
Vor einem Jahr hatte sie sich intern auf eine höher dotierte Stelle beworben. Schon lange im Vorfeld hatte sie sich intensiv darauf vorbereitet, hatte Abendkurse besucht und am Wochenende Fachliteratur gewälzt. Sie bekam die Stelle. Aber nach nur einem Monat stand fest, dass sie den Aufgaben intellektuell nicht gewachsen war. Sie wurde auf ihre alte Stelle zurückversetzt und musste wieder in das Büro mit Herrn Bloch ziehen.
Herr Bloch liebte Schweinefleisch, und zwar in allen Variationen: Schnitzel, Braten, Wurst, Frikadelle aber am liebsten als Hackepeter mit viel Zwiebeln, sagte er Schmidt mal, als er mit Freude feststellte, dass es in der Kantine Hackepeterbrötchen mit Zwiebeln zum halben Preis gab. Das war bisher das einzige Mal, dass Herr Bloch mit ihm gesprochen hatte. Er war ihm in seiner bodenständigen Direktheit irgendwie sympathisch.
Noch am selben Tag waren beide gleichzeitig auf Toilette. Schmidt saß zwei Kabinen entfernt und hörte, wie Herr Bloch unter lautem Stöhnen abdrückte. Sein Schiss wurde von einem nicht enden wollenden saftigen Geknatter begleitet, wie Schmidt es in dieser Lautstärke noch nie in meinem Leben zuvor gehört hatte. Schmidt  schloss die Augen und stellte sich Frau Sauer vor.
Jetzt war Herr Bloch seit zwei Wochen krankgeschrieben. Seine Frau, die ebenfalls hier gearbeitet hatte - die beiden hatten sich hier bei der Arbeit kennengelernt - , hatte Selbstmord verübt.
Die ganze Abteilung wurde in den Besprechungsraum bestellt und Frau Schultz-Kramer verkündete in knappen Worten die tragische Neuigkeit mit gepresster Stimme und dramatischer Miene. Über das, was alle am meisten interessierte, also das Wie und Warum, verlor sie kein Wort. Frau Knapp fasste sich ein Herz und rief Herrn Bloch an. Unter dem Vorwand ihm zu kondolieren, fragte sie ihn aus. So erfuhren sie, dass bei Frau Bloch etwa vor einem Jahr ein inoperabler Hirntumor diagnostiziert worden war. Sie hatte außer ihrem Mann niemanden davon erzählt, weil sie meinte, ihr Schicksal nur ertragen zu können, wenn für sie alles normal weiter läuft. Ein Leben als Hausfrau mit einer Halbtagsstelle als Sekretärin war für sie die einzig vorstellbare Option, ihre Erfüllung.
Und so machte Frau Bloch einfach weiter in ihrer kleinbürgerlichen Puppenstube mit Garten und Kaffee und Kuchen und Nachbarschaftsplausch. Als sich die Ausfallerscheinungen häuften, hielt sie es dann doch nicht mehr aus. Sie hatte alle ihr zur Verfügung stehenden Schmerz- und Schlaftabletten geschluckt und dazu Eierlikör getrunken. Eierlikör war der einzige Alkohol, den Frau Bloch leiden mochte. Und um sicher zu gehen, hatte sie sich dann noch die Pulsadern an den Handgelenken aufgeschnitten. Als Herr Bloch sie abends im Badezimmer fand, war sie bereits tot. Am nächsten Tag hatte er gleich bei der Arbeit angerufen und Bescheid gegeben.
Die Blochs waren die nächsten Tagen das dominierende Gesprächsthema.
Für Herrn Bloch wird es jetzt sicher auch nicht leicht. In seinem Alter nochmal jemanden zu finden, das ist schon ein echtes Problem. Er ist nun mal kein George Clooney, sondern dicklich und kahlköpfig und auch nicht sonderlich wohlhabend. Die ganze Hausarbeit, die jetzt auf ihn zukommt: Kochen, Putzen, Wäsche, Bügeln und und und. Allein die Sauerei im Badezimmer, die ihm seine Frau durch das Öffnen der Pulsadern hinterlassen hat. Frau Sauer sagte, dass sie aus eigener Erfahrung weiß, wie äußerst hartnäckig Blutflecken sind. Kommt bei einem Selbstmord eigentlich ein Tatortreiniger? Wollen wir es mal für Herr Bloch hoffen. Kinder haben sie keine. Frau Engelbrecht meinte, für ihn wäre es vielleicht das beste, wenn er sich eine Haushaltshilfe sucht, eine Osteuropäerin oder Asiatin und vielleicht wird dann ja auch sogar mehr daraus. Die Nachbarn hätten dafür angesichts seiner Situation sicher Verständnis. Aber das müsse er letztlich selber wissen. Frau Blochs Lebensversicherung ist ja nach ihrer Aktion sicher auch futsch.
Schmidt wunderte sich, dass Frau Krause noch nicht mit ihrer Spendenschachtel für einen Blumenkranz, oder was da so üblich ist, aufgetaucht war.
In letzter Zeit wurde das auch immer mehr mit der Geldsammelei, da waren sich eigentlich alle einig. Jetzt hatten sie sogar schon angefangen, für runde Geburtstage zu sammeln und wenn man einmal damit anfängt, kommt man nicht mehr raus aus der Nummer. Gruppenzwang. Und Frau Krause machte das ja auch ganz geschickt: geht zuerst zu den Vorgesetzten, die sich natürlich nicht lumpen lassen und mindestens einen Schein in die Schachtel werfen und die anderen wollen dagegen natürlich nicht schlecht aussehen und passen sich an. Frau Krause schrieb sogar jedes Mal Name und Höhe der Spende in ihre Liste, die sie für alle sichtbar mit in die Schachtel packte. Und irgendwas war immer: Verabschiedung, Dienstjubiläum, Geburt, Hochzeit, Geburtstage und jetzt auch noch so was.
Am nächsten Tag kam Fr. Krause mit ihrer Spendenschachtel in sein Büro. Schmidt sah, dass schon einige 5 und 10 Euro-Scheine in der Schachtel lagen. Er schaute in das Geldscheinfach seines Portemonnaies und verzog seinen Mund, um Frau Krause zu verstehen zu geben, dass es leider leer war (was nicht stimmte, sie aber nicht sehen konnte) und gab ihr dann ein 2 Euro-Stück. Sie schrieb seinen Namen und eine 2 in ihre Liste. Erleichtert sah Schmidt, dass auch andere Kollegen 2 Euro gespendet hatten. Einmal sah er sogar eine 1, konnte aber auf die Schnelle den Namen nicht erkennen.
Nach dem Mittagessen musste Schmidt ins Vorzimmer von Frau Schultz-Kramer, da es eine Ungereimtheit mit seinem Urlaubsantrag bezüglich seines Resturlaubs zu klären gab. Im Büro war gerade niemand und auf dem Schreibtisch von Frau Krause, der Sekretärin von Frau Schultz-Kramer, lag die Spendenschachtel. Schmidt wartete einen Moment. Es war völlig ruhig. Auch aus dem Büro von Frau Schultz-Kramer war nichts zu hören. Wahrscheinlich waren die beiden noch beim Mittagessen.
Schmidt öffnete die Spendenschachtel. Jemand hatte sogar einen 50 Euro-Schein gegeben. Oder aber jemand hatte nur so einen großen Schein und hatte sich dann den Restbetrag herausgeben lassen. Ja, das war wahrscheinlicher. Schmidt hörte Schritte. Er nahm sich einen 10 Euro-Schein, steckte ihn in die Sakkotasche, klappte die Schachtel zu und trat zwei Schritte vom Schreibtisch zurück. Die Schritte ließen sich niemandem zuordnen. Die meisten seiner unmittelbaren Kollegen erkannte Schmidt leicht an ihrem Schritt. Das war immer dann ausgesprochen hilfreich, wenn sich die energisch stampfenden Schritte von Frau Schultz-Kramer seinem Büro näherten. Dann konnte er noch schnell zumindest das Fenster der Fachanwendung am Monitor öffnen.
Die Schritte entfernten sich wieder. Schmidt verließ das Büro.
Seine freudige Erregung hielt noch Stunden an. Das Geld war ihm egal, er brauchte es nicht. Er fragte sich, ob Frau Krause die fehlenden 10 Euro kommunizieren wird oder die Angelegenheit für sich behält. Kontrolliert überhaupt jemand ihre Spendeneinnahmen? Veruntreut sie vielleicht selber auch Geld und wird deswegen kein Wort über die 10 Euro verlieren? Er war gespannt, was passiert. Die Erregung tat ihm gut.
Um den 10 Euro-Schein wieder loszuwerden, ging er nach Feierabend auf einen Espresso in ein Café. Die Bedienung war sehr aufmerksam und auf authentische Art herzlich. Sie war jung, etwa Anfang 20. Eine Studentin, die sich etwas nebenbei verdient, war sich Schmidt sicher. Ihre kleinen spitzen Brüste drückten sich durch ihre Bluse. Schmidt musste aufpassen, dass er sie nicht allzu offensichtlich anstarrte.
Der Espresso kostete 1,70 Euro. Schmidt gab ihr den 10 Euro-Schein und sagte „stimmt so“. Augenblicklich schämte er sich. Die Bedienung betrachtete ihn misstrauisch. Natürlich musste sie es für einen plumpen Annäherungsversuch oder einen Ausdruck von Großspurigkeit halten. In jedem Fall eine Widerwärtigkeit. Hastig verließ er das Café mit eingezogenem Kopf. Ihm war klar, dass er das Café nie wieder betreten konnte.