Samstag, 19. Oktober 2019

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Schmidt musste sich beeilen. Der Discounter machte um 20 Uhr zu. Es war viertel vor, als er mit einem Einkaufswagen die Schiebetür passierte. Im Eingangsbereich stand ihm ein junger Mann im Weg. Die Großspurigkeit in Person: großspurige Turnschuhe, großspurige Jogginghose, großspurige Jacke mit großspurigem Aufdruck. Er führte zwei Bullterrier mit sich. Einer war jung, der andere älter und auffallend vernarbt. Sogar seine Art zu telefonieren war großspurig. Breitbeinig stand er den anderen Kunden im Weg, von denen keiner es wagte, sich zu beschweren, und teilte seinem Gesprächsteilnehmer volltönend und zugleich verschwörerisch mit, dass er sich gerade bei Lidl befinde.
Ganz offensichtlich handelte es sich um einen Dummkopf, aber Schmidt beneidete ihn um seine Präsenz, seine Einfachheit und sein Selbstvertrauen. Das ist doch nur ein armseliger Wicht, der durch seine Fassade sein mickriges Ich kompensieren muss, war die gängige Meinung über solche Gestalten, aber für Schmidt waren alle Menschen im Inneren mickrig. Wir sind hilflos und verkorkst, alle miteinander. Und es ist die Fassade, die entscheidet, ob wir oben schwimmen oder unten in der Scheiße stecken. Sie hält uns aufrecht, nicht das viel beschworene Rückgrat. Das Rückgrat macht uns nur Probleme, vor allem bei eingeschränkter Flexibilität. Nicht umsonst stecken wir in die Fassade soviel Zeit und Energie und lassen sie uns einiges kosten. Außerdem ist dieser Typ mit Sicherheit unterm Strich zufriedener mit sich und seinem Leben als die meisten. Egal wie modern und kultiviert eine Gesellschaft auch sein mag, die brutale Dummdreistigkeit wird darin immer eine Nische finden und bis zu einem gewissen Grad auch erfolgreich sein.
Wahrscheinlich hat er auch mit mehr Frauen Umgang, als die meisten Männer jemals haben werden: junge und dumme Dinger, die sich leicht rumkriegen und ebenso leicht wieder abservieren lassen.
Die Liebe ist eine miese Suggestivlüge, genau wie Religion. Der Geschlechtsakt hingegen ist real. Schmidt redete sich in Rage und schob den Einkaufwagen ziellos durch die mannshohen Warenschluchten, bis er sich wieder beruhigte und seinen überschaubaren Einkaufszettel routiniert abarbeitete.
Als er zu Hause seine Einkäufe verstaute, wurde ihm bewusst, dass er bereits seit Jahren immer die gleichen Produkte kaufte. Nicht einmal bei den Käsesorten probierte er etwas Neues. Er hatte Sehnsucht nach Veränderung, nach einer Partnerin.