Samstag, 19. Oktober 2019

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Sie verteilten den Glühwein und dann prosteten sie sich lachend zu. Was gibt es hier zu lachen? Schmidt wollte weg.
Die Einladung zum Besuch des heute eröffneten Weihnachtsmarktes hatte ihn viel zu überraschend ereilt, als dass Schmidt sich eine Strategie zur Vermeidung dieses zweifelhaften Vergnügens hätte überlegen können. Und da die Einladung von Frau Schultz-Kramer persönlich ausgesprochen wurde, war es ohnehin eher eine Aufforderung als eine Einladung. So hatte er natürlich ganz spontan und mit Freude zugesagt. Jedes auch nur noch so kurzes Zögern wäre ihm negativ ausgelegt worden.
Herr Eisler stellte sich neben die neue Kollegin Frau Jensen und legte ungeniert einen Arm um ihre Hüften, um mit ihr zu einem Party-Schlager, der aus kleinen Lautsprechern über ihnen knarzte, zu schunkeln. Frau Jensen ließ das mit sich geschehen. Sie war 17 Jahre jünger als Herr Eisler und er ihr Vorgesetzter. Eisler war bekannt dafür, dass er unverhohlen und aufdringlich mit Frauen flirtete, obwohl er verheiratet war und drei Kinder hatte. Er war gutaussehend und groß, hatte eine sportliche Figur und ein markantes Gesicht. Er strotzte vor Selbstvertrauen und Leichtigkeit. Letztes Jahr hatte er sich ein Einfamilienhaus gekauft, ein Reihenhaus, gelegen an einem Hang auf einem Neubaugebiet eines „geschichtsträchtigen Dorfes“. Mit „perfekter Verkehrsanbindung“ und „gehobener Nachbarschaft“, wie er es gern beschrieb. Schmidt hatte er hat mal ein Foto gezeigt: eine Spießerhütte in Spießerhausen befand Schmidt. "Dorfidylle mit intaktem Gemeinschaftssinn". Schmidt war in einem Dorf aufgewachsen, ihm war das vertraut und irgendwie war es auch in ihm verwurzelt. Die Leute hingen eng aufeinander und langweilten sich. Boshafter Tratsch war neben Fernsehen die beliebteste Unterhaltung. Erwachsene Menschen, Eltern und Großeltern, die dachten und empfanden wie neiderfüllte Kleinkinder. Vielleicht hatte es sich inzwischen dank Internet und Unterhaltungselektronik etwas entspannt. Das konnte Schmidt nicht beurteilen. Sobald sich ihm damals die Möglichkeit geboten hatte, hatte er dem Dorf ein für alle Mal den Rücken gekehrt. Die kalte, indifferente Anonymität der Großstadt war ihm sympathischer.
Die Raten für das Haus wird Eisler noch bis Renteneintritt und sogar ein wenig darüber hinaus abstottern müssen. Aber immer noch besser als Miete zahlen, wurde er nie müde zu betonen, da hat man im Gegensatz zur Miete am Ende was davon. Als er Schmidt vor einiger Zeit genau das mal wieder erörterte - es war das fünfte oder sechste mal, dass er das tat -, wies Schmidt ihn darauf hin, dass so ein Haus im Falle einer gescheiterten Ehe, was ja heutzutage eher die Regel ist, auch ein Riesenproblem sein könne. Eisler wiegelte Schmidts Einwand mit seinem kalten Siegerlächeln ab, ließ ihn aber fortan mit seinem Hauserwerb in Ruhe. Offensichtlich hatte Schmidt ins Schwarze getroffen. Eisler war das auch schon  bewusst gewesen, ansonsten hätte er nicht ständig die Vorzüge seines Hauserwerbs vor den anderen immer wieder so betont.
Wie Frau Jensen zu ihm stand, war schwer zu sagen. Sie befand sich noch in der Probezeit und hielt sich klugerweise bedeckt. Da sie sehr attraktiv war, hatten sich schon die ersten Kolleginnen hinter vorgehaltener Hand zu Wort gemeldet und sie als arrogant bezeichnet.
Neben Schmidt hatte sich Frau Bäumler gestellt. Sie war korpulent und hatte eine unreine Haut. Obwohl sie so dick war, waren ihre Brüste eher klein. Schlauchförmig und flach lagen sie auf ihren Kugelbauch. Sie ging jetzt langsam auf die vierzig zu und hatte noch nie einen Partner gehabt. Das war allgemein bekannt, aber keiner sagte was, denn sie war allgemein beliebt. Bei den Frauen, weil sie keine Konkurrenz darstellte - im Gegenteil: neben ihr gaben sie alle eine gute Figur ab - und bei den Männern, weil sie von ihnen gar nicht beachtet wurde, es also gar keinen Grund gab, sie nicht zu mögen.
Schmidt bestellte sich als erster der Runde einen zweiten Glühwein, was Frau Bäumler zu der Äußerung verleitete, da wolle es heute aber einer wissen. Schmidt war über ihre Dreistigkeit überrascht. Was denkt die sich! Er sagte ja ja und drehte sich von ihr weg.
Sie standen nun seit einer Stunde und siebenundvierzig Minuten beisammen und Schmidt fühle sich um seinen Feierabend betrogen. Die Smalltalkthemen waren ausgegangen, also unterhielt man sich wieder über die Arbeit. Herr Kampe erklärte, welche Auswirkungen das in nächster Zeit anstehende Softwareupdate der Fachanwendung für die Arbeitsabläufe in den einzelnen Abteilungen habe. Offensichtlich wollte er mit seinen sehr ins Detail gehenden Ausführungen Frau Schultz-Kramer beeindrucken. Er suchte bei seinem nicht enden wollenden Vortrag immer wieder ihren Augenkontakt.
Am anderen Tisch war die Stimmung besser. Eisler erzählte wilde Geschichten aus seiner Jugend. Er verfügte ohne jeden Zweifel über Entertainerqualitäten und die Frauen himmelten ihn an. In Schmidt brodelte es: Du kannst noch so eine miese dumme Sau sein, wenn du gut aussiehst und flott daherredest, stehen die Frauen Schlange. So ist das. Punkt. Ende. Aus. Innere Werte, Herzensbildung? - Lächerlich.
Als sich die Gruppe dann endlich auflöste, waren sich alle darüber einig, dass es ein toller Abend gewesen sei und man werde das mit Sicherheit wiederholen. Schmidt war erleichtert und freute sich auf sein Bett. Am wohlsten fühlte er sich inzwischen, wenn er einfach nur noch restlos erschöpft war und ins Bett durfte. Der Schlaf war ihm längst das Liebste.