Samstag, 19. Oktober 2019

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Dass Frau Schröder und Schmidt nun ein Paar waren, sorgte in der Firma für kein großes Aufsehen. Rein äußerlich passten sie schon mal gut zusammen und dass sich innerhalb der Firma Paare fanden, war nichts ungewöhnliches. Ab einem gewissen Alter ist der Arbeitsplatz nun mal der erfolgversprechendste Kontakthof.
Schmidt gefiel es, dass seine Beziehung zu Beate kein Gesprächsthema war. Dem Kollegium war es offenbar weitestgehend egal. Außerdem gefiel es ihm, dass ihn diese Liebschaft in den Augen der anderen in vielerlei Hinsicht normal erschienen ließ. Unauffälligkeit war ihm wichtig. Die Leute sollten ihn in Ruhe lassen.
Seit einiger Zeit musste Schmidt zwei Stunden täglich an dem neuen Info-Point arbeiten. Nachdem man jahrelang, um Personalkosten zu reduzieren, die Kunden erfolgreich an die Selbstbedienungsterminals gedrängt hatte, meinte die Geschäftsführung plötzlich, dass sich das Unternehmen wieder „menschlicher“ präsentieren solle. Man erhoffe sich durch diese „überraschend ungewöhnliche Maßnahme“, die Kundenbindung zu stärken und auch neue Kunden gewinnen zu können. Also wurde im Eingangsbereich ein von innen beleuchtetes Stehpult mit der Aufschrift „Info-Point“ montiert. Darauf standen ein Thin Client mit Zugang zur Fachanwendung und den Kundendaten und ein Schild mit der Aufschrift „Ich bin für Sie da.“ Und dahinter ein echter Mensch, der ab und an Schmidt sein musste.
Zunächst nahmen die Kunden diesen Service nur zögerlich an. Sie waren misstrauisch und vermuteten wahrscheinlich, dass sie anstelle von Hilfestellungen Beratungsgespräche erhalten, die auf neue Vertragsabschlüsse abzielen. Als die Kunden dann aber mitbekamen, dass dem nicht so ist, nahmen sie den Dienst zusehends in Anspruch. Allerdings nicht so, wie die Geschäftsführung sich das vorgestellt hatte. Der „Info-Point“ wurde als Beschwerdestelle genutzt und der zweistündige Infodienst in Folge dessen für die Angestellten zur Tortur.
Die Kunden hielten ihnen emotional aufgeladene Vorträge über ihre Probleme und beschuldigten sie der Schlamperei oder des Betrugs. Zumeist handelte es sich um längst abgeschlossene Fälle, die die Rechtsabteilung erfolgreich abgeblockt hatte. Aber die Kunden ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, noch mal ordentlich Dampf abzulassen und sich in Rage zu reden. Viele bestanden darauf, ihren Fall nochmals zu prüfen und in ihrem Sinne zu lösen und zwar sofort. Leute, die nicht in der Lage waren, schlichte Vereinbarungen und klare Fristen einzuhalten, plusterten sich vor ihnen auf.
Letzten Freitag hatte Schmidt wieder so einen Fall vor sich. Der Herr hielt ihm einen nicht enden wollenden Vortrag. Allein wegen der vielen Redundanzen hörte Schmidt schon gar nicht mehr hin. Das Problem des Kunden war wieder einmal ein eindeutiger Verstoß gegen die Geschäftsbedingungen seinerseits. Schmidts Infoschicht war fast vorbei und er schaute auf seine Armbanduhr, um zu sehen, wann endlich seine Ablösung kam. Als der Kunde das registrierte, hielt er inne. Er beugte sich zu Schmidt vor und begann vor Erregung zu zittern. Dann brüllt er ihn an. Er wolle unverzüglich den “Chef hier“ sprechen. Schmidt sagte: „Gut, ich hole ihn“ und ging weg.
Schmidt ging in sein Büro und entsperrte seinen PC. Er ging ins Internet und schaute nach privaten Mails. Wieder mal nur Werbespams, die er ungelesen löschte. Dann schaute er bei Google-News, was in der Welt so los war. Außer einigen Meldungen über abstoßende Gewalttaten fand nichts so richtig sein Interesse. Er merkte, dass er Appetit auf ein Brötchen hatte. Er sperrte den PC und zog sich die Jacke über. Durch den Hintereingang ging er auf die Straße. Um die Ecke gab es eine Bäckerei, die Brötchen anbot, die man nach Wunsch belegen lassen konnte. Der Salat war immer frisch und knackig. Alles wurde appetitlich präsentiert. Schmidt entschied sich für ein Ei-Tomaten-Brötchen ohne Gurke, aber mit Salat und Majo.
Die Bäckereiverkäuferin kannte er noch nicht, sie war jung und hübsch und sie lächelte ihn an. Das Personal wechselte hier auffallend oft. Vor allem die jungen und hübschen waren nie lange hier. Die lächelten sich schnell einen solventen Versorger an, damit sie diesen Job nicht lange ausüben mussten, war Schmidts Theorie.
Während sie sein Brötchen belegte, schaute er ihr in den Ausschnitt. Sie hatte keine großen Brüste, aber sie waren straff und samtig. Sie reichte ihm das eingepackte Brötchen über die Theke. Schmidt bezahlte und ging zurück, diesmal, noch ganz in Gedanken bei der Bäckereiverkäuferin, zum Vordereingang und da sah er den Kunden von vorhin, wie er von zwei Security-Männern auf die Straße geschoben wurde. Er erkannte Schmidt und schrie „DER DA! DER DA! DA! DER!“ Worauf einer der Security-Männer ihm nachdrücklich zu verstehen gab, dass es für ihn besser sei, wenn er jetzt endlich Ruhe gebe. Schmidt schob sich an ihnen vorbei, ging zum Info-Point und fragte Herrn Georg, der jetzt dort seinen Dienst verrichtete, was denn hier los sei. Der erzählte ihm, dass, als er seine Infoschicht begann, der Kunde schon am Info-Point stand. Er fragte ohne Einleitung und sichtlich erregt, ob „er hier der Chef sei“. Als er das wahrheitsgetreu verneinte und ihn fragte, was er denn für ihn tun könne, wurde der Kunde sofort ausfallend, trat gegen das Pult und brüllte herum, wobei er sich einer völlig unangemessen, vulgären Gossensprache bediente, so dass er sich genötigt sah, die Security zu rufen.
Schmidt sagte: „Die Gestörten haben heute mal wieder Freigang“ und Herr Georg stimmte ihm zu. Der Spruch „Die Gestörten haben heute mal wieder Freigang“ erfreute sich bei den Angestellten, die im Infodienst eingesetzt wurden, in letzter Zeit großer Beliebtheit.
Der Vorfall hatte ein Nachspiel. Als die Geschäftsführung von dem Security-Einsatz erfuhr, wurden alle Infodienstler zu ihren Erfahrungen im Infodienst befragt. Da sie einhellig berichteten, dass der Info-Point von den Kunden fast ausschließlich als Beschwerdestelle genutzt werde, wurde geprüft, ob er wieder demontiert wird. Sich öffentlich beschwerende Kunden sind alles andere als werbewirksam. Und was die informellen Quellen jetzt so von sich gaben, sah es ganz so aus, dass die verhassten Infoschichten schon bald der Vergangenheit angehören werden.
Dank Schmidt.
Er fühlte sich schon ein bisschen als Held, erzählte es aber niemandem.