Samstag, 19. Oktober 2019

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Die Tage wurden länger und wärmer. Der Frühling stellte sich ein. Die Kollegen, vor allem die Kolleginnen schwärmten von der Sonne und dem aufkeimenden Grün. Sie waren gut gelaunt und ganz aufgekratzt. Schmidt realisierte den Frühling in erster Linie dadurch, dass er tagsüber seine Wohnung nicht mehr heizen musste. Das fand er gut, aber deswegen in eine Schwärmerei zu verfallen? Dazu sah er keine Notwendigkeit.
Allerdings hatte er sich bei einer „Gratis“-Singlebörse im Internet angemeldet. Da er die 40 überschritten hatte, waren nächtliche Kneipentouren zum Frauenkennenlernen, wie er es in seinen 20er Jahren getan hatte, schon lange keine Option mehr. Überhaupt kam er, wenn er es sich recht überlegte, mit anderen Menschen außerhalb der Firma seit mehreren Jahren schon nicht mehr in Kontakt. Er hatte kein Hobby, das ihn hätte sozial einbinden können. So schien ihm so eine Vermittlung per Internet ein sinnvoller Schritt zu sein.
Die meisten Frauen seines Alters in der Singlebörse waren übergewichtige, alleinerziehende Mütter, die dringend einen Versorger suchten. Auch wenn es keine offen zugab, war es offensichtlich. Ihre Ansprüche waren enorm. Viele wünschten sich einen Mann, der idealerweise das gesamte Rollenspektrum zwischen knallhartem Macho und verständnisvollem Softie beherrscht und jederzeit ihren Launen und Bedürfnissen entsprechend abrufen kann. In dieser Anspruchshaltung sahen sie eine Bestätigung ihrer Emanzipation und starken Persönlichkeit. Wenn ein Mann sich eine Frau wünscht, die idealerweise das gesamte Rollenspektrum zwischen biederer Hausfrau und tabuloser Nymphomanin beherrscht und jederzeit seinen Launen und Bedürfnissen entsprechend abrufen kann, ist er ein sexistisches Schwein.
Schmidt schrieb einige kinderlose Frauen im Alter zwischen Ende zwanzig und Mitte dreißig an, aber zunächst ohne Erfolg. Er erhielt keine Antworten oder standardisierte Absagen. Die einzigen Nachrichten, die er erhielt, waren offensichtlich von gefälschten Profilen. Er sollte einen Link anklicken, aber Schmidt war kein Idiot.
Die erste richtige Antwort von einem echten Profil kam von „SuperMaus72“. Sie sah ausgesprochen gut aus auf dem Foto: lange blonde Haare, knallrote Lippen und Zähne aus einer Zahnpastawerbung. Sie war 32, arbeitete als Altenpflegerin und zu ihrem perfekten Glück fehlte ihr nur noch eine starke und verständnisvolle Schulter zum Anlehnen und Kuscheln. Schmidt wurde schnell klar, dass „SuperMaus72“ keine potentielle Partnerin war. Sie war einfältig und langweilig. Ihre Textnachrichten waren voller Rechtschreibfehler und übersät mit albernen Emojis. Das Profilbild war mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht realistisch. Schmidt machte sich einen Spaß daraus und präsentierte sich ihr gegenüber als erfolgreicher Unternehmer in einem Event-Catering-Business und zeigte für alles Verständnis, was sie ihm mitteilte.
Nachdem sie sich viermal geschrieben hatten und Schmidt langsam schon das Interesse an dieser Farce verloren hatte, fragte sie ihn, was für eine Meinung er zum Thema Sex hätte. Schmidt legte sich die ersten Floskeln zurecht: "ist schon wichtig, aber für eine erfüllte Beziehung sind andere Dinge von größerer Bedeutung", "die schönste Nebensache der Welt", "man darf sich nicht von den übersexualisierten Medien beeinflussen lassen"… Aber dann kam ihm der Gedanke, dass sie ihn mit der Frage vielleicht aus der Reserve locken wollte, weil sie zu Recht den Verdacht hegte, er sei nicht hundertprozentig ehrlich zu ihr. Kurzerhand schrieb er ihr seine ehrliche Meinung: "Im Geschlechtsakt offenbart der Mensch seine Lächerlichkeit: Er ist ein schwitzender, fellloser Affe, der ackert und bizarre Grimassen schneidet. Man kann das ganze Drumherum bis zur Dekadenz kultivieren, der eigentliche Akt aber ist und bleibt banal und primitiv. Die Tabuisierung der Sexualität ist genauso krank wie die Hochstilisierung. Am besten, man macht sich einen Spaß daraus und genießt dabei einfach das körperliche Wohlbefinden – in etwa so wie den erlösenden Schiss nach einer stundenlangen Toilettensuche."
Schmidt hörte nichts mehr von ihr und versuchte bei anderen Profilen sein Glück. Mit vier Profilen kam er in Kontakt und man schrieb sich, was man sich in solchen Börsen eben schreibt: höfliche Nettigkeiten, biografische Details, die einem im guten Licht erscheinen lassen, langweiliges Geschwätz. Es war keine Frau dabei, für die er Interesse entwickelte. Nach zwei Wochen kam dann doch noch eine Nachricht von „SuperMaus72“. Sie schrieb, dass sie seine letzte Äußerung "voll ätzend" fand und deswegen „auf gar keinen Fall mehr Kontakt mehr mit ihm haben will“.
Schmidt bekam einen Lachanfall und löschte sein Profil. Kostenpflichtige Singlebörsen seien angeblich vielversprechender und effektiver, aber an seinem eigentlichen Problem änderte es nichts. Schmidt war ein Sonderling, der sein Alleinsein schon zu lange lebte. Und auch wenn er es sich so sehr wünschte: Er konnte sich ein Leben mit einer Frau kaum noch vorstellen. Wie sollte das funktionieren? Was hatte er einer Frau zu bieten?