Samstag, 19. Oktober 2019

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Schmidt saß in der Kantine allein am Tisch, weil er immer zusah, dass er in der Kantine allein am Tisch saß, weil er beim Essen gern seine Ruhe hatte. Dann setzten sich die drei neuen Auszubildenden zu ihm an den Tisch. Sie quakten und quasselten in ihrer jugendlichen Manie drauf los, als stünden sie im Wettstreit, wer es schafft, die anderen am schrillsten und lautesten zu übertönen.
Schmidt war verärgert, sie lenkten ihn von seinem Essen ab. Er konnte sich nicht mehr voll und ganz darauf einlassen und es nicht mehr wirklich genießen.
Sie sprachen über Akne. Keine der drei hatte ein Problem mit Akne. Ihre Gesichter und Hälse waren glatt und makellos, genau so makellos wie ihre Frisuren, ihr Make-up und überhaupt ihre ganzen Aufmachungen. Die dickste von ihnen, eine Blondine mit einer Stupsnase, die ihrem Gesicht in Verbindungen mit den dicken Backen und den kleinen Augen etwas Schweinchenhaftes verlieh, sagte, dass sich das Ausdrücken und Aufplatzen eines dicken, ausgereiften Eiterpickels doch irgendwie genauso anfühle wie ein Orgasmus. Das machte die anderen beiden für einen Moment sprachlos. Schmidt dachte: Wenn sich bei einer Frau so ein Orgasmus anfühlt, kann ich gut verstehen, warum so viele Frauen ein Problem damit haben. Viel zu gehemmt und ohnehin von der Situation überfordert behielt Schmidt seinen Gedanken für sich.
Die drei schauten zu ihm rüber. Hatte der etwa ihr Gespräch mitverfolgt? Sie steckten ihre Köpfe zusammen und fingen an zu kichern. Schmidt wurde verlegen und wütend. Stur aß er weiter, ohne überhaupt mitzubekommen, was er sich da in den Mund schaufelte.
Die Mädchen beruhigten sich wieder und wechselten das Thema. Schmidt merkte aus den Augenwinkeln, dass die dicke Blondine ihm immer wieder verstohlene Blicke zuwarf. Sie war zwar dick, aber die Proportionen stimmten. Schmidts Wut war verflogen, die Blicke der Blondine erregten ihn. Obwohl er längst aufgegessen hatte, blieb er sitzen.
Als die drei aufstanden und gingen, schaute Schmidt ihnen nach. Die beiden anderen Mädchen hatten eine erheblich bessere Figur, dennoch starrte Schmidt der Dicken auf den breiten Hintern. Er nahm sich vor, sie in eine Masturbationsphantasie einzubauen. Da trägt sie ein eng geschnürtes Mieder, das ihre wuchtigen Brüste hervor presst und so nuttige schwarze Lacklederstiefel, die ihr bis über die Knie reichten. Dann stand auch er auf und ging in sein Büro.
"WIEVIEL FRAUEN BRAUCHT EIN ERFOLGREICHER MANN?" brüllte Herr Schwarz, kaum dass Schmidt eingetreten war. Schmidt schaute ihn fassungslos an.
"ZWEI! EINE, DIE HINTER IHM STEHT UND EINE, DIE VOR IHM LIEGT!" Herr Schwarz sprang von seinem Stuhl auf und ohne überhaupt Schmidts Reaktion auf seinen Witz abzuwarten, stürmte er hysterisch lachend aus dem Büro.
Immerhin hatte Schmidt jetzt das Büro für sich. Er musste an dem Tag noch die Monatsstatistik abschließen. Routinearbeit, langweilig und sinnlos. Er dachte währenddessen an die Blondine und schmückte seine Phantasie mit weiteren Details aus.
Die Statistiken wurden ausgedruckt, zur Einsicht für alle Interessierten in chronologisch aufgestellten Leitz-Ordnern abgeheftet und nach drei Jahren geschreddert. Schmidt baute seit Jahren schon bewusst Zahlendreher ein, damit sich die Aussagen offensichtlich widersprachen. Noch nie war das irgendjemanden aufgefallen.
Als Herr Schwarz wiederkam, war er für den Rest des Tages ruhig. So provozierend ruhig, als erwarte er, dass Schmidt sich nach seinem Befinden erkunden solle. Aber Schmidt ließ sich nicht darauf ein.
Der Dienstschluss war wie jedes Mal eine Erlösung.
Nach einer gefühlten Drei-Stunden-stop-and-go-Staufahrt im Feierabendverkehr, die in Wirklichkeit eine dreiviertel Stunde dauerte, fand Schmidt wieder mal nur einen Parkplatz zwei Straßen von seiner Wohnung entfernt. Er schloss seinen Audi ab und betrachtete ihn nochmal, wie er es immer tat, wenn er ihn abgeschlossen hatte. Er liebte seinen Audi, die Präzision in der Verarbeitung, das zurückhaltende Design, in dem sich Eleganz und Sportlichkeit vereinten. Damit konnte er sich identifizieren. Für ihn war der Audi ein Musterbeispiel deutscher Ingenieurskunst. Schmidt hatte immer schon Ingenieure und was sie erschaffen konnten bewundert. Ihnen haben wir unseren Wohlstand in Deutschland zu verdanken. Nicht irgendwelchen intellektuellen Schwätzern. Er wäre gern Ingenieur geworden, aber seine schulischen Leistungen in den mathematisch naturwissenschaftlichen Fächern waren zu schlecht für ein entsprechendes Studium gewesen. Stattdessen hatte er sich für diesen geisteswissenschaftlichen Unfug eingeschrieben, den er nach sechs Semestern abgebrochen hatte.
Schmidt drehte sich um und machte sich auf den Weg nach Hause und da sah er ihn schon kommen. Mit einem überschwänglichen Lächeln kam er auf ihn zu. Sein Anblick war so erfreulich wie grüner Rotz auf dem Bürgersteig am Montagmorgen auf dem Weg zur Arbeit.
Schmidt beschleunigte seinen Schritt, um es schneller hinter sich zu bringen. Ein Ausweichen war nicht mehr möglich.
"Hallo, mein Freund! Wie geht es dir?"
Erstens bin ich nicht Ihr Freund und zweitens geht es Sie einen Dreck an, wie es mir geht! Dieser leichtfertige und völlig unangemessene Umgang mit dem Wort „Freund“ machte Schmidt jedes Mal wieder aufs Neue fassungslos.
"Muss ja", antwortete Schmidt mit einem falschen Lächeln, weil es sich ja nur um einen Austausch von Floskeln handelte.
Schmidt hatte beruflich nur ein einziges Mal mit ihm bei einer Kundenberatung zu tun gehabt und seitdem wurde er vom ihm bei jeder Gelegenheit angesprochen. Er musste bei Schmidt in der Nähe wohnen, ständig lief er ihm über den Weg. Seine Aufdringlichkeit widerte ihn an. Das und die Entwertung des Begriffs „Freund“.
Er war Südländer: Italiener, Türke, Spanier, Portugiese (Schmidt wusste es nicht mehr). Gedrungener Körper, kurz- und breitbeinig, kraftmeierisch daherkommend, vorlaut und verschmitzt, ein lebendes Klischee. Seine Unbekümmertheit und zur Schau gestellte Lebensfreude überforderten Schmidt.
Gegenüber Südländern war er grundsätzlich voreingenommen. Sie sind emotional gesteuert und das "südländische Temperament" hat in der Regel zwei Seiten: Herzlichkeit und Aggressivität. Laut sind sie in jedem Fall, allein das machte sie ihm unsympathisch. Und die vielbeschworene südländische Gastfreundschaft war seiner Überzeugung nach nichts anderes als ein Ausdruck tradierter Prahlerei. Schmidt bevorzugte Kulturen, die Wert auf eine kontrollierte Emotionalität legen, auf Zurückhaltung und Diskretion.
"Hau rein!", rief er Schmidt noch nach. Schmidt lächelte und winkte ihm nach, als sei es ihm wieder mal ein Vergnügen gewesen, seinen alten Freund wiederzutreffen.
Er stellte ein Fertiggericht in die Mikrowelle, Lasagne Bolognese. Schmidt lebte allein. Er hatte noch eine Schwester. Die lebte, ebenfalls allein, am anderen Ende von Deutschland. Die beiden waren sich in vielerlei Hinsicht ähnlich, deswegen mochten sie sich nicht besonders und mieden einander. Seit dem Unfalltod ihrer Eltern auf der Autobahn vor elf Jahren - ein übermüdeter LKW-Fahrer hatte das Stauende nicht bemerkt - und der organisatorischen Abwicklung des elterlichen Nachlasses, den beide erschreckend dürftig befanden, hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt.
Schmidt aß die Lasagne direkt aus der Verpackungsschale, um Geschirr zu sparen und knipste sich dabei durchs abendliche Fernsehprogramm. Es war völlig egal, was im Fernseher lief. Es waren akustische und optische Stimulanzien, die ihm irgendwie halfen.
Um halb elf machte Schmidt den Fernseher aus und ging ins Bett.
Auf der linken Seite liegend, damit er den rechten Arm frei hatte, dachte an die dicke Blondine. Sein Verlangen nach ihr war ein rein pornographisches, das man am ehesten für Frauen empfindet, die man eigentlich verachtet. Er streichelte und knetete seine Genitalien, aber sein Penis blieb schlaff und klein.