Samstag, 19. Oktober 2019

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Vorfreuden sind Trugbilder. Sirenengesang, der dich immer wieder zu Enttäuschung und Desillusionierung lockt. Der Volksmund setzt noch einen drauf und sagt: "Vorfreude ist die einzige Freude."
Schmidt glaubte immerhin noch an freudige Momente: spontan und so kurzlebig wie eine elektrostatische Entladung, die schon wieder vorbei ist, wenn man sie spürt. Aber viel mehr ist da nicht.
Herr Hoppe hatte Schmidt mal in einer Mittagspause erzählt, dass die Vorfreude auf das Tennisspielen am Freitagabend ihm gut über die Arbeitswoche hilft. "Und nach dem Tennis wird dann noch das eine und andere Bierchen mit den Kumpels gekippt", sagte er mit einem Augenzwinkern. Und nach einer kurzen rhetorischen Pause fügte er noch gewichtig hinzu: "Wissen Sie, der Mensch braucht immer etwas, auf das er sich freuen kann."
Herr Hoppe war in zweiter Ehe mit einer vierzehn Jahre jüngeren Frau verheiratet, hatte aus erster Ehe einen Sohn, der BWL in Bayreuth studierte und lebte in einem zum Wohnhaus umgebauten Bauernhof auf einem zwei Hektar großen Grundstück. Schmidt schätzte, Herr Hoppe verdiente in etwa fünfmal so viel wie er.
Erfolg im Leben ist weniger der Originalität als vielmehr der Angepasstheit geschuldet.
Schmidt trank, aber die Trunkenheit führte zu nichts mehr. Schmidt trank jetzt schon den ganzen Samstag und er wurde nach und nach einfach nur müde und schlapp. Den gleichen Ablauf hatte er im Prinzip jeden Tag auch ohne Alkohol. Alkohol ist nichts als ein Katalysator für bereits bestehende Befindlichkeiten.
Gestern hatte ihm Herr Meyer berichtet, er und seine Frau hätten während ihres Sommerurlaubs eine tolle Bergtour unternommen. Der Aufstieg sei äußerst beschwerlich und kräftezehrend gewesen, aber als sie oben waren und "der atemberaubend grandiosen Aussicht gewahr wurden", seien sie für ihre Mühen "tausendfach entlohnt" worden. Schmidt glaubte diesem Schwätzer kein Wort. Was soll diese ewige verlogene Schwärmerei? Ist diese billige Masche schon der ganze Trick? Müssen die Menschen sich ihr Leben einfach nur immer und immer wieder schön reden?
Schmidt ging ans Fenster und betrachtete die Kondensstreifen des Flugverkehrs im eisigen, strahlend blauen Himmel. Er stellte sich vor, es seien Asteroiden, die ersten Vorboten einer Deep-Impact-Apocalypse. Die Auslöschung der Menschheit, einschließlich ihn, erschreckte ihn nicht. Bei dem, was sie sich, einschließlich ihn, schon so alles geleistet hat, ist es eigentlich längst Zeit dafür. Vielleicht bringt die Evolution das nächste Mal ja was Besseres hervor: eine rein symbiotische Natur, die nicht auf dem Prinzip Fressen und Gefressen werden beruht.
Schmidt musste sich eingestehen, eine Depression entwickelt zu haben. Sie äußerte sich bei ihm in einer inakzeptablen Jämmerlichkeit. Jede Nacht, die er nicht alkoholisiert ins Bett ging, überfiel ihm kurz vorm Einschlafen schlagartig und begleitet von panischer Angst die Erkenntnis seiner Einsamkeit. Hilflos und gelähmt wie ein in die Enge getriebenes Tier verharrte er in der Embryonalstellung, bis die Panikattacke nachließ. Er verachtete sich für diese Schwäche und ging deswegen lieber alkoholisiert ins Bett, auch wenn er dafür den nächsten Tag nervlich angespannt und unausgeglichener verbringen musste.
Schmidt hatte alles satt. Er meldete sich krank. Es war ihm einfach unmöglich geworden, fünf Tage am Stück dort zu sein und wenn er da war, starrte er die meiste Zeit auf den Monitor, ohne etwas zu tun. Er zerbrach sich den Kopf über einen Ausweg. Bei den Öffentlich-Rechtlichen lief neulich eine Reportage über alternative Lebensentwürfe und Wohnformen. Neugierig gemacht durch die Ankündigung in der Fernsehzeitung sah er sich das an. Es war wieder mal eine Enttäuschung. Die Sendung handelte von einem einem Frührentner, der nur noch in seinem Wohnmobil lebte und damit in Deutschland unterwegs war. Er schwärmte von seiner Freiheit. Schmidt fand, der Mann war in etwa so frei wie ein Dackel mit einem Backstein am Hals. Ohne die nötigen Mittel für eine zumindest finanzielle Unabhängigkeit gibt es nicht mal so etwas wie eine Ahnung von irgendeiner Form von Freiheit. Für Schmidt war kein Ausweg aus seiner Tretmühle erkennbar.
Im Moment war er mit Sicherheit bei ungefähr zwei Promille angelangt und trotzdem gab seine Phantasie nichts her: keine Verklärung, keinen Größenwahn, nicht mal Selbstüberschätzung und keine verwegenen Pläne. Zwei Promille und nichts als Ernüchterung. Darüber musste er kurz lachen. Immerhin.
Aber der Alkohol verschaffte ihm Klarheit: Nichts ist irgendwas wert. War er nüchtern, ließ er sich nur wieder täuschen und einspannen von Begehrlichkeiten und Ängsten, von "Sachzwängen" und anderem Unfug. Er hatte auch keine Lust mehr aufs Essen, obwohl er Hunger verspürte.
Er wollte im Grunde nur noch schlafen.
Er trank weiter, um der Müdigkeit willen.