Samstag, 19. Oktober 2019

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Auch eine Woche nachdem Schmidt die 10 Euro aus der Spendenkasse genommen hatte, wurde im Betrieb nicht darüber gesprochen. Frau Krause hatte es anscheinend für sich behalten oder es war ihr gar nicht aufgefallen. Was auch immer, es interessierte Schmidt ohnehin nicht mehr. Die Erregung war längst verflogen. Viel mehr beschäftigte ihn immer noch das peinliche Erlebnis mit seinem unangemessenen Trinkgeld.
Gestern war er nach Feierabend an dem Café vorbeigelaufen. Durch die Fensterfront konnte er sehen, dass die Studentin wieder arbeitete. Sie stellte gerade mit ihrem Lächeln einen Teller mit Kuchen auf den Tisch einer weißhaarigen Dame, die dankbar nickte und auch lächelte. Schmidt wandte sich ab und beschleunigte seinen Schritt.
Auf dem Nachhauseweg hielt er an einer Tankstelle und kaufte sich einen Sechserträger Bier. Es war eine billige Marke und am nächsten Tag erschien er mit einem mittelschweren Kater bei der Arbeit.
Die Arbeit an sich war dann nicht das Problem, sie stellte schon lange keine intellektuelle Herausforderung mehr dar, aber die Kollegen und Kunden: ihre Geräusche, ihr Anblick, ihr Reden – das zu ertragen mit seinem Kater war eine Tortur.
Dann hatte er endlich Feierabend. Er fuhr nach Hause und legte sich direkt ins Bett, dankbar für sein Alleinsein.
Die Vorstellung, dieser Arbeit noch mehr als 20 Jahre nachgehen zu müssen, war monströs und unerträglich. Demütigende Kundenkontakte, nervtötende Kollegen, unsinnige Entscheidungen der Geschäftsleitung, die sich ausnahmslos aus geltungsbedürftigen Narzissten zusammensetzt – auf Dauer verwandelt das jede Seele in eine Mondlandschaft, selbst dann, wenn man die größte Frohnatur auf Gottes Erden ist.
Und die Entwicklung der letzten Jahre zeigte, dass sie die Schrauben immer fester drehen, um aus den Angestellten mehr und mehr herauszupressen. Wenn man bis zur Rente durchhält, ist man ein psychisches Wrack. Mit der wiedergewonnen Freiheit weiß man nichts mehr anzufangen und das Lachen ist versiegt. Festgefahren, mutlos und ohne finanziellen Spielraum realisiert man, dass man um sein Leben gebracht wurde.
Herr Kunze schilderte Schmidt vor einigen Wochen während der Kaffeepause seine Pläne für den Ruhestand. Er freue sich schon „wie ein Schneekönig“ darauf, endlich die Zeit zu haben, sich ganz seinen Hobbys und Interessen zu widmen. Er plane, in das Haus seiner Eltern, das er in nächster Zeit wohl erben wird, zu ziehen und sich dort ein spezielles Zimmer nur für seine Schallplatten- und Beatles-Merchandise-Sammlung herzurichten. Die Sammlung werde bis dahin auch sicherlich noch so einiges an Umfang zunehmen, versprach er Schmidt mit Enthusiasmus in den Augen. In seinem Kopf sei bereits alles haarklein ausgearbeitet. Außerdem hoffe er, bis dahin endlich die „Frau fürs Restleben“ gefunden zu haben und mit ihr dann „spannende Entdeckungsreisen“ in fernöstliche Länder unternehmen zu können.
Schmidt sagte nichts dazu. Wer sich mit Mitte vierzig noch Illusionen über ein schönes und spannendes Leben macht, dem ist mit Vernunft und Rationalität nicht beizukommen. Und Herr Kunze ist Ende fünfzig.