Sonntag, 7. April 2019

Seit der letzten Fortbildung hieß Robert Kirsch nur noch "Fräulein Kirsch" oder einfach nur "die Kirsche". Die Fortbildung hatte den Titel "Teamentwicklung und Kooperation – Schwerpunkt: Kommunikation und Konfliktlösung". Als sie morgens in den Seminarraum kamen, waren die Tische zur Seite geräumt und die Stühle im Kreis aufgestellt und somit war sofort klar, was sie erwartete: pseudopsychologisches Geschwätz, Rollenspiele, Diskussionen über Probleme und Gefühle und genauso war es dann auch. Diese Veranstaltungen, da waren sich so ziemlich alle einig, sind so nützlich wie ein Furunkel zwischen Arschloch und Hodensack.
Sie hatten sich gefragt, warum nur ihre Abteilung zu dieser "Fortbildung" musste. Aber schon in der Vorstellungsrunde wurde klar, wem sie es zu verdanken hatten. Jeder stellte sich kurz mit Namen und seinem Arbeitsbereich vor und sagte zu den Erwartungen an diese Veranstaltung mehr oder weniger nichts. Allein Robert Kirsch wurde ausführlicher. Ihn störe so mancher Umgangston, der in seiner Abteilung an den Tag gelegt werde. Manchmal fühle er sich regelrecht herablassend behandelt, zum Beispiel auch beim Mailverkehr, wo es Kollegen gebe, die es nicht mal für nötig erachten, eine Begrüßung oder Verabschiedung zu formulieren. Er selbst sei nun mal anders erzogen und leide unter dieser Verrohung der Kommunikation. Er erhoffe sich von der Fortbildung eine allgemeine Sensibilisierung für diese Problematik.
Die Dozentin nickte zustimmend und strahlte während seiner Ausführungen. Sie grinste von einem Ohr zum anderen, denn ihr wurde mal wieder bewusst, warum sie all das auf sich genommen hatte, warum sich all die Mühen gelohnt haben, warum sie nach ihrem abgebrochenen Studium des Sozialwesens, der Eheschließung und der langen Kinderpause doch noch den Mut und die Energie aufgebracht hat, die zwei von ihrem lieben Mann finanzierten Lehrgänge zu besuchen und sich damit auf das Abenteuer dieses beruflichen Quereinstiegs einzulassen: Sie wurde hier gebraucht. Wirklich gebraucht. Und sie konnte etwas bewirken. Sie wird diese Gruppe auf den richtigen Weg bringen und Herr Kirsch wird in seiner beruflichen Tätigkeit wieder Glück und Zufriedenheit erfahren.
Sie brachten die Fortbildung an zwei Tagen hinter sich, während die liegen gebliebene Arbeit auf ihren Schreibtischen auf sie wartete und lernten zum 20sten Mal das Vier-Seiten-Kommunikationsmodell von Schulz von Thun, was auch nach dem 20sten Mal keinerlei Nutzen im Alltag bringt.
Aber immerhin hatte Robert Kirsch jetzt einen lustigen Spitznamen und alle begannen jetzt ihre Mails an ihn mit "Sehr geehrter Herr Kirsch" und beendeten sie mit "Hochachtungsvoll".