Sonntag, 14. April 2019

Herr Kühn schimpfte liebend gern und viel. Am liebsten schimpfte er über Ausländer: "Fachkräfte! Deutschland braucht Fachkräfte! Ich kann es nicht mehr hören! Was bringen uns denn diese Fachkräfte? – Babylonisches Sprachgewirr und Knoblauchfahnen beim Schlangestehen im Aldi!"
Er war verbittert. Mit Ende 40 hatte er einen Schlaganfall erlitten. Die motorischen Defizite als Folge der Hemiparese beeinträchtigten ihn so sehr, dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. Ein Jahr nachdem er arbeitslos wurde, verließ ihn seine Frau. Er hatte weder finanzielle Rücklagen noch eine Berufsunfähigkeitsversicherung und lebte fortan dank staatlicher Unterstützung am Existenzminimum. Mit Anfang 50 zog er in eine winzige Einzimmerwohnung in einem Plattenbau. Seine soziale Abstellkammer, mehr habe er im Leben wohl nicht mehr zu erwarten, sagte er. Seine Nachbarn sind rücksichtslos lärmende Asoziale, die ihn nachts um den Schlaf bringen.
Im Zuge einer ABM war er eingestellt worden. Er verrichtete einfachste Arbeiten: Ablagen sortieren, Briefe eintüten, den Reißwolf füttern. Finanziell brachte ihm das nichts, aber so gehe zumindest die Zeit schneller rum. In seiner Wohnung halte er es nicht aus.
Als er wieder mal in der Kantine seine Tiraden abließ, um seiner Verbitterung Luft zu machen, fielen angeblich die Wörter "Bimbos" und "Scheißkanaken", was eine Kollegin dazu veranlasste, sich über Herrn Kühn zu beschweren. Er wurde ins Büro von Frau Schultz-Kramer zitiert und erhielt eine Abmahnung. Am nächsten Tag war er für zwei Wochen krank geschrieben.
Alle fragten sich, ob er überhaupt wiederkomme.
Er kam wieder, war aber nicht mehr der Gleiche. Er war ungepflegt. Er roch nach altem Schweiß und Zwiebeln und seine Wangen waren eingefallen und unrasiert. Aber die größte Veränderung lag in seinem Gesichtsausdruck. Statt der Verbitterung sprang einem nun der blanke Hass entgegen.
Herr Kühn sprach auch nicht mehr. Nur wenn es sich nicht vermeiden ließ, krächzte er ein heiseres Ja oder Nein hervor. Seine ABM konnte aus betriebsorganisatorischen Gründen leider nicht verlängert werden. Nach zwei Tagen war er für niemanden mehr in der Firma ein Thema.