Sonntag, 7. November 2021

 Letzten Endes kommt es vielleicht nur darauf an, dass man trotz allem einfach immer ein freundlicher, umgänglicher Mensch geblieben ist. Ich jedenfalls möchte mich mal nur so verabschieden.


Früher hat er in dieser Absturzkneipe gejobbt, oft so betrunken, dass er nicht mehr wusste, ob er noch Bedienung oder selbst Gast war. Irgendwie hat er's aber immer hingekriegt. Jetzt ist sein Leben bürgerlich, mit Frau, Kind und Vollzeitstelle, und er kriegt's immer weniger hin.


Aber wohin jetzt mit der Trunkenheit? Sonst hat er immer gern Musik gehört, aber jetzt? Nichts mehr, nur noch Leere, irgendwie läuft bei ihm alles ins Leere, jetzt sogar das Trinken, Teufel auch! Er gießt sich noch einen ein.


So reihte er sich ein in das Heer der gescheiterten Existenzen, die den schrillen Versprechungen der Popkultur auf den Leim gegangen waren. Musiker wollte er werden, Rockstar, und dann als Schauspieler durchstarten. Er zog im Foyer des Jobcenters die Nummer 748 und setzte sich.


Auf der Arbeit ist er außerordentlich freundlich und zuvorkommend, lacht über deine Scherze, zeigt für alles Verständnis und betont gern seine Zustimmung und Begeisterung. Nie erlebt man ihn anders und je länger man ihn kennt, desto unsympathischer wird er.


Er fällt anderen schnell ins Wort, schon aus Gewohnheit. Für ihn ist das was Grundsätzliches: Würde er anderen zuhören, sich für ihren Scheiß interessieren, wäre er nicht da, wo er jetzt ist und er fühlt sich wohl, wo er jetzt ist - sauwohl!


Als Kind wurde er von vorn bis hinten verhätschelt und mit der Erwartungshaltung schlich er dann durchs Leben. Immerhin hatte er aber eine schöne Kindheit.


Obwohl er nur noch wenig trank, hatte er immer genug Alkohol für einen Vollrausch vorrätig. Allein die Möglichkeit beruhigte und befreite ihn und allein das, Beruhigung und Befreiung, war es ja, was er überhaupt noch vom Alkohol wollte.


Weil er meint, klüger zu sein als andere, wird er schnell ungeduldig mit anderen. Das ist nicht nett. Und auch eher weniger klug.


Damals hatte er sich mal mit einem Edding den dritten Streifen auf seine Turnschuhe gemalt. Dass er da erst recht ausgelacht wurde, hat er längst vergessen. Heute Abend wird er jedenfalls mit dem geliehenen Sportwagen mal wieder die Partymeile rauf- und runterbrettern.


Auch er hatte diese kindliche Phase, als er Fliegen quälte, ihnen Flügel oder Beine ausriss, sie lebend in ein Spinnennetz warf, bösartig und sadistisch. Es ist in ihm, doch er hatte Glück und wuchs zu einem normalen, freundlichen Mann heran, harmlos und empfindsam.


Während sie von ihrer erfolgreichen "Work-Life-Balance" und der generellen Wichtigkeit von "Self-Care" redete und redete, saß Paketzusteller Jens S. nur einen Tisch weiter und musste sich das anhören.


Damals, als man sich noch am Wochenende nachts um halb zwei sternhagelvoll kennengelernt hatte, da kam man schneller zur Sache, die Beziehungen hielten dann aber auch jetzt nicht so viel länger als heutzutage.