Sonntag, 20. Februar 2022

 Es war kurz nach 4, nachmittags, er war betrunken, der Tag war gelaufen. Früher hatte ihm das mal Spaß gemacht.


Immer dieses vorfreudige Kribbeln im Hodensack, wenn er wegen irgendwas aufgeregt war! – Als ob es in seinem Alter noch groß Aufregungen gäbe, die seinen Hodensack etwas angingen.


Da gab es immer die einen in der Firma, die nach vorn strebten, was erreichen wollten, eine Karriere im Kopf hatten. Und dann die anderen, die lieber im Hintergrund blieben und keinen Wind machten. Die anderen, das waren immer die sympathischen, immer.


Wenn es darum ging, mal wieder eine Legitimation für ein sinnloses Besäufnis zu suchen, war sein Hirn ein erstaunlich findiges Bürschchen. Von sich selbst leicht zu überzeugen, war es natürlich auch.


Tja, sein Leben: Er hatte nie so recht gewusst, was damit anzufangen. So hat er jetzt auch nicht das Gefühl, etwas verpasst oder falsch gemacht zu haben. Und auf die törichte Idee, in seinem Alter noch was nachholen zu müssen, kommt er schon mal gar nicht.


Darüber zu lügen, was einem wirklich Spaß macht, was einem wirklich wichtig ist, wie es einem wirklich geht, das hat er im Berufsleben gelernt. Musste er, gehört es doch zu den Elementarkompetenzen. Und nach all den Jahren macht es ihn immer noch unglücklich.


Wenn man sich mal wieder Musik und Filme der späten 60er und frühen 70er reinzieht, sich deren Flair und Zeitgeist vergegenwärtigt, dann fragt man sich schon, warum es heutzutage wieder so ist, wie es ist.


Seine Berufswahl war ja im Grunde 'ne Zwangsheirat gewesen. Hätte ja auch gutgehen können. Hätte. – Na ja, 'ne Liebesheirat geht ja auch oft nach hinten los. So 'ne Vernunftehe ist vielleicht das vernünftigste. Wie auch immer, die Pause war rum und er ging wieder rein.


Nach knapp 20 Jahren Großstadtleben flüchtete er zurück ins Provinzielle, wo er dann schon bald wieder in der Befindlichkeit steckte, die ihn damals in die Großstadt trieb.


Sabine B. erschien schüchtern und unbedarft, insgeheim war sie aber ausgesprochen gehässig. Nicht nur in Kunstgalerien, Restaurants oder dem Stadttheater war "ja, ist mal was anderes" ihre Lieblingsfloskel.

Samstag, 12. Februar 2022

 Er lebt allein und zurückgezogen und jeden Samstag geht er ins Woolworth, schaut sich da die Deko- und Wohnartikel an und stellt sich ein Leben ausgestattet mit solchem Kram vor. Dann geht er noch zu Tchibo und da kauft er dann auch nichts.


Ludwig W. wollte keine Wohnung mit Blick aufs Meer, ins Tal oder auf sonst irgendeine Landschaft. Um nichts in der Welt wollte er seinen Blick auf die Straße mit den Menschen und ihrer Geschäftigkeit darauf missen.


Da stand es mal wieder: Es habe einen lauten Aufschrei gegeben, in der Bevölkerung, irgendwas war teurer geworden. Ludwig W. legte die Zeitung beiseite. Die wenigen Male, die er als Erwachsener geschrien hatte, hatten ihm nichts gebracht, im Gegenteil.


Die Hölle, das sind die anderen, aber ist man nur noch allein, so ist man es selbst, schrieb Ludwig W. in sein Tagebuch, und trotzdem gehe ich zu diesem muffigen Seniorentreff nicht nochmal, auf keinen Fall!


Seine Aussichten auf den Lebensabend sind düster. Allein der Rentenbescheid ist jedes Mal ein Schlag ins Gesicht. Und bei diesen Aussichten schleppt er sich tagtäglich zu einem verhassten Job, der ihn auch noch um seine Gegenwart bringt. Er muss verrückt sein, völlig verrückt.


Beruflich etwas komplett Anderes, Neues zu machen, einfach, weil das Alte abgestanden und sinnlos geworden ist, davon hat er immer geträumt. Er gehörte noch zu der privilegierten Generation, die bis zur Rente in ein und demselben Beruf, bei ein und derselben Firma arbeiten durften.


Allein die Illusion auf gepackten Koffern zu sitzen, hält ihn davon ab durchzudrehen. Seit jetzt 23 Jahren sitzt er hier auf gepackten Koffern.

Samstag, 5. Februar 2022

 Jeden Morgen kam er wie angestochen hier ins Büro und kaum hatte er den PC an und die Fachanwendung offen, machte er schon das erste Mal die Boris Becker-Faust. Er lebte in einer Welt voller Abenteuer, Prüfungen und Heldenmut. Ich ging raus und zog mir im Flur noch einen Automatenkaffee.


Er schlurfte ums Eck, zum Netto, Kippen und Bier. Die Stadt war tot, er war tot und der Kassierer war so richtig tot.


Seit 33 Jahren ist er jetzt Steuerfachgehilfe und in all der Zeit war für ihn kein Tag wie der andere gewesen. – Nein, natürlich hatte das nichts mit dem Beruf zu tun.


War Ines S. mal wieder ob der Liederlichkeit ihres unmöglichen Mannes Olaf S. in gereizter Stimmung, so bekamen das im Büro dann ihre männlichen Kollegen den ganzen Tag über zu spüren. Ausnahmslos alle. Aber vor allem der Dirk W.
Warum? – Weil das Leben ungerecht war.


Die völlige Erschöpfung war für Marga A. der einzig legitime Grund für ein nichtstuerisches Herumsitzen. Dass ihr Mann, Udo A., kein Problem damit hatte, einfach nur so nichtstuerisch herumzusitzen, brachte sie regelmäßig zur Weißglut und so gingen die Jahre ihrer Ehe ins Land.


In der in die Jahre gekommenen Shopping-Mall läuft aus Deckenlautsprechern veraltete Popmusik in Endlosschleife, sonst ist es ruhig. Melancholisch veranlagte Menschen kommen jetzt gern, schlendern durch die leeren Gänge, einige machen Fotos, man kennt sich.